Angefühlt. Jona Mondlicht

Angefühlt - Jona Mondlicht


Скачать книгу
greift plötzlich das kleine Glas mit dem Zucker und hält es der jungen Frau entgegen. »Das brauchen wir hier nicht. Bitte nehmen Sie es wieder mit. Nichts Süßes. Ich hatte extra darum gebeten.«

      Sarah blickt entgeistert zu Alexander. Sie kann sich nicht erinnern, dass er mit der Bedienung tatsächlich darüber gesprochen hätte.

      »Kein Problem«, meint die junge Frau, zuckt aufgesetzt lächelnd mit den Schultern und greift den runden Behälter aus Glas. »Das muss ich wohl vergessen haben.«

      »So wird es sein.« Alexander nickt wie ein Lehrer, der sich an der missratenen Leistung eines Schülers ergötzt. Du hast mir nicht zugehört, könnte er sagen, und ich habe gewusst, dass du nicht mehr als diese schlechte Note schaffen wirst, egal, wie sehr du dich anstrengst. »Für den Moment habe ich keinen weiteren Wunsch.«

      Sarah wartet, bis die Bedienung den Raum durchquert und verlassen hat. Dann lehnt sie sich wieder nach vorn. »Du hast ihr nichts davon gesagt, dass du keinen Zucker möchtest«, erklärt sie leise.

      Alexander greift unbeeindruckt zum Milchkännchen. »Doch, das habe ich.« Er versenkt den Löffel rührend zur Hälfte in seinem Kaffee und beobachtet interessiert, wie sich eine Kumuluswolke aus Milch in dem schwarzen Getränk auflöst. »Ich habe sie sehr deutlich darauf hingewiesen.«

      Sarah schüttelt den Kopf. Sie ist überzeugt, dass sie recht hat. Denn sie hat auf jedes einzelne Wort von ihm geachtet, seitdem sie den Friedhof gemeinsam verlassen haben. »Auch ich habe es nicht gehört«, sagt sie.

      »So?« Alexander hebt den Löffel über die Tasse und nimmt sich Zeit. Nachdenklich beobachtet er jeden Tropfen, der aus der Mitte der Oberfläche heraus eine kreisförmige, braune Welle schickt. Schließlich legt er das Besteck sorgsam auf den Teller. »Hörst auch du mir nicht richtig zu?«

      Sein Lächeln ist nur ein Vorhang. Direkt dahinter befindet sich etwas Unerwartetes, denkt Sarah. Wartend. Lauernd. Wie der kleine, abgetrennte Raum in Brunos Werkstatt, in dem Lia kniend ausharrt, während er auf der anderen Seite ahnungslose Kunden bedient.

      »Möchtest du mich etwa belehren?« Alexander greift seelenruhig zur Kaffeetasse, hält sie mit beiden Händen. Es ist, als fasse er bereits nach der Kordel zum Öffnen des Vorhangs.

      »Nein«, beschwichtigt Sarah, »schon gut. Ich wollte das nicht diskutieren.« Ihr hätte es gereicht, wenn es bei einem kurzen Hinweis geblieben wäre.

      »Sage mir, dass du im Recht bist.« Alexander bläst über den Tassenrand hinweg Luft. Während er dabei zu ihr schaut, sieht es aus, als blicke er nach oben. Das passt nicht zu ihm, denkt Sarah.

      »Sag es mir.« Er klingt unnachgiebig. Hinter dem Vorhang bewegt sich etwas.

      Sarah atmet tief ein. Sie sucht keine Bestätigung. Und es ist ihr unangenehm, Alexander zu berichtigen. Darum ging es doch gar nicht. Sie schüttelt den Kopf.

      Er nähert sich vorsichtig dem Tassenrand. Als seine Lippen das Getränk berühren, zuckt er zurück. »Verdammt, ist das heiß«, beschwert er sich und stellt die Tasse grob ab, sodass der Kaffee fast überschwappt. Mit dem angewinkelten Zeigefinger fährt er sich über den Mund. »Dann werden wir unsere Unterhaltung jetzt fortsetzen. Und höre mir bitte aufmerksam zu. Wo war ich stehengeblieben?«

      »Komm zu mir«, meinte Bruno aufmunternd und klopfte mit einer Hand auf die Lehne seines Thronsessels. Bei jedem anderen als ihm hätte ich das als Geste empfunden, mit der man ein Kind zu sich ruft und ihm Zeit schenkt. Doch ich wusste von Brunos leidenschaftlicher Art und Weise, mit einer Frau umzugehen. Bislang hatte er – vielleicht gerade deswegen – keine Partnerin gefunden, die ihm entsprach. Als ich jedoch beobachtete, wie unmittelbar Julia seiner Anweisung folgte und sich neben ihn stellte, direkt dort, wo seine Hand auf die Sessellehne geklopft hatte, war ich mir dessen nicht mehr sicher.

      Er sah zu ihr herauf und runzelte die Stirn. »Alexander wird es nicht stören, wenn du dich setzt«, sagte er schließlich. Eine direkte Anweisung hätte nicht anders geklungen.

      Julia nickte, dann sank sie neben dem Sessel auf die Knie. Sie legte ihre Hände in den Schoß und richtete ihren Blick auf die Kerze, die zwischen Bruno und mir auf dem Tisch stand. Eine Haarsträhne fiel über ihr Gesicht, aber Julia blieb so ruhig wie die kleine Flamme, die den Docht zehrte und ihre Wangen matt beleuchtete. Nur ihr Atmen hob und senkte sanft ihren Oberkörper, bewegte den Stoff der weißen Bluse. Es schien, als habe sie sich mit einer Sphäre aus Stille umhüllt. In eine schweigende Ewigkeit begeben, aus der sie nur Bruno wieder freisprechen durfte.

      »Das stimmt doch, Alexander, oder?« Bruno riss mich gleichsam aus meinen Gedanken wie aus meiner Faszination.

      Ich löste den Blick von der knienden Frau, strich mit der Hand über den Nacken und nahm wieder auf dem Sofa Platz. »Mich stört das in keiner Weise«, pflichtete ich Bruno bei. »Ganz im Gegenteil, denn …« Ich suchte nach der richtigen Formulierung. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob meine Ahnung zutrifft. Hatte er einen Menschen gefunden, der seine Vorstellungen eines Zusammenlebens teilte? »Es sieht schön aus«, antwortete ich schließlich eher unbeholfen als diplomatisch.

      »Natürlich«, meinte Bruno und sah mich befremdet an, als zweifle er an meinem Verstand.

      »Sie«, korrigierte ich mich daraufhin zügig. »Ich wollte ausdrücken, dass sie schön aussieht.« Ich beschloss, besser zu schweigen. Oder mir für Antworten mehr Zeit zu nehmen.

      »Selbstverständlich.« Er sah über die Lehne hinweg zu Julia, legte ihr vorsichtig seine Hand flach auf den Kopf und strich ihr durch das Haar. »Ich rief dich zu mir«, sprach er, »weil ich ein Korsett fertigen werde. Kein gewöhnliches. Ein Unikat. Alexander hat ganz außergewöhnliche Vorstellungen. Sehr exquisite.« Bruno schwieg einen Moment. »Aber realisierbare«, ergänzte er dann versonnen. Er schien längst in Schnitten und Schnürungen zu denken. »Es wird mir Freude bereiten.«

      Ich räusperte mich. Es traf zu, dass ich ein besonderes Korsett wünschte. Ich hatte mich an Bruno gewandt, weil er bekannt war als ein Meister seines Faches. Seine Ledermanufaktur hatte man mir bereits vor Jahren verraten als ein Geheimtipp für Wünsche, die so individuell waren wie meine. Trotzdem verstand ich nicht, welchen Part die Frau einnehmen sollte, die regungslos neben dem Sessel kniete und lauschte.

      Als hätte Bruno meine Gedanken bemerkt, fuhr er fort. »Steh auf, Lia.« Er zog seine Hand zurück auf die Lehne und wartete.

      Als Julia ihren Kopf hob, streifte mich ein scheuer Blick. Möglicherweise hatte sie vermutet, ich würde es nicht bemerken. Doch mir genügte der kurze Moment, in dem wir uns direkt in die Augen sahen, um ihre Unsicherheit zu spüren. Wie eine unablässig arbeitende Unruhe lag sie hinter ihren Pupillen. Seltsam und unangenehm musste es ihr erscheinen, vor mir – einem unbekannten und wesentlich jüngeren Mann – derart dirigiert zu werden. Schließlich lenkte ihr Verstand ein, ließ ihren Blick flüchten und mit den Augen den Vorhang fixieren, durch den sie den Raum betreten hatte. Eilig zog sie das rechte Bein nach vorn und drückte ihren Körper mit einer einzigen Bewegung aufwärts, ohne mit den Handflächen den Boden zu touchieren. So blieb sie stehen und sah an mir vorbei.

      Bruno lächelte und ließ seinen Kopf gegen das Polster der Lehne sinken. Er genoss, was er sah. »Sei so lieb und nimm deine Hände in den Nacken«, meinte er in einem Tonfall, als wolle er sich angewärmte Pantoffeln bringen lassen.

      Julia verstand es als Anweisung wie alle anderen Sätze zuvor. Unmittelbar hob sie die Arme, bis ihre Ellenbogen eine Linie mit den Augen bildeten. Ihre Hände legte sie hinter ihren Hals und verschränkte dort die Finger.

      »Was meinst du, Alexander?« Bruno sprach mich an, sein Blick ruhte aber auf Julia. Abschätzend. Gedanklich umspannte er ihre Taille. »So außergewöhnliche Wünsche wie deine begegneten mir bisher selten. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, dieses Korsett zu nähen und zu komplettieren. Damit wir uns bei jedem Schritt gemeinsam ein Bild machen können, sollten wir es regelmäßig am lebenden Objekt begutachten, oder?«

      Er hatte recht. Ich war zu ihm gekommen, weil ich ein Korsett suchte, das perfekt meinen Vorstellungen entsprach. Solche Kleidungsstücke


Скачать книгу