Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten. Pirmin Müller
den Hofplatz zum Stall, dessen Fenster von trüben Lampen erhellt wurden.
»Da bist du ja!«, wurde sie von Alfonse begrüsst, der sich die Stirn mit einem Lappen trockenwischte. »Eben ist es rausgerutscht.«
»Es ist ja weiss!«
»Es ist ein Stier.«
»Ein schöner Junge«, stellte Francine fest und betrachtete gerührt, wie die Kuh mit ihrer rauen Zunge das Kalb reinigte.
»Es hat sich gedreht, danach ist es ganz schnell gegangen«, erklärte Alfonse und fügte ein genuscheltes Sätzchen an, das ähnlich klang wie »eigentlich ganz problemlos«.
Francine holte trockenes Heu, um dem Kalb eine warme Unterlage zu bereiten. »Er soll sich willkommen fühlen. Wenigstens die kurze Zeit, die ihm bleibt …«
»Ich nenne ihn Blanc«, sagte Alfonse.
»Blanc?«, fragte sie verwundert.
»Passt doch?«
»Warum eigentlich nicht … Alfonse, ich muss leider los. Es ist Zeit«
»Ja, es ist Zeit«, wiederholte er. »Pass auf dich auf.«
»Mach ich«, versicherte sie und küsste ihn flüchtig.
Draussen dämmerte es, der Nieselregen wurde von einem nebelverhangenen Herbstmorgen abgelöst. Sie mochte diese karge, windige Gegend im französischen Jura, ihre verschlossenen Bewohner und die Erzählungen, die sich um kauzige Typen und verrückt gewordene Bauern in abgelegenen Höfen rankten.
Nach der morgendlichen Dusche schlüpfte sie in die Jeans und zwängte sich in eine enge hellblaue Bluse, die den polizeilichen Vorgaben der ›zivilen Uniform‹ gerade noch entsprach. Sie kontrollierte den Lidschatten und die Konturen des Lippenstifts. Francine war zufrieden. Da gab es nichts auszusetzen; sie hatte ein schönes Gesicht, ihre ebenmässigen Züge wurden von dichten dunklen Haaren umrahmt und lächelte sie, bildeten sich in den Wangen zwei fröhliche Grübchen. Die paar Kilos, die ihre Figur rundeten, störten sie nicht, im Gegenteil. Sie war schliesslich bald Mitte dreissig und wusste genau, dass die meisten Männer auf Kurven standen.
In der Küche liess sie einen Kaffee aus der Maschine, den ersten von vielen im Laufe eines Arbeitstages, wie sich das für eine ordentliche Ermittlerin der Police Nationale gehörte. Sie setzte sich hin, nahm ihr Buch – ›Faule Kredite‹ von Petros Markaris – und begann zu lesen. Nach ein paar Seiten klappte sie es zu und steckte es in die Tasche. Sie hoffte, im Laufe des Tages ergäbe sich die eine oder andere Gelegenheit zum Weiterlesen, denn ausser einem Termin mit ihrem Ausbildner war voraussichtlich nicht viel los.
Auf dem Weg zum Fahrzeugunterstand warf sie einen letzten Blick auf den jungen Stier, der auf wackligen Beinen neben seiner Mutter stand. Plötzlich knickte er ein, richtete sich aber sofort mit aller Kraft wieder auf. Sie wünschte ihm einen schönen allerersten Tag, ging zu ihrem Peugeot und fuhr vom Hof in das nahe Dörfchen Saules, dort nahm sie die Abzweigung nach Ornans. In knapp einer halben Stunde würde sie im Innenhof des Commissariat de Police ihr Auto parken und kurz darauf die ersten Kollegen begrüssen.
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