Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten. Pirmin Müller

Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten - Pirmin Müller


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Blick Aziz zugewandt, erklärte Luc, dass er jetzt das Radio einschalte und daher ein paar Knöpfe zu drücken habe. Er wies mit dem Zeigefinger auf alle Knöpfe und Tasten, die zum Gerät gehörten. »Die hier oberhalb«, er zeigte auf einige mit Zeichen versehene Tasten, »die gehören nicht dazu.«

      »Wer war das?«, unterbrach ihn Aziz.

      »Das war Meyer, mein Disponent. Er hat Zugang zum Bordcomputer. Über GPS sieht er, wo ich mich befinde.«

      »Wir sollten Meyer sagen, was los ist«, meinte Thierry und Aziz erwiderte, dass es hier keine Hilfe benötige: »Ihr tut was ich sage, und alles ist gut.«

      »Verstanden, reg dich nicht auf«, antwortete Thierry, »der mit Waffe hat die Macht. Auch wenn sonst die Sache anders aussehen würde.«

      »Thierry, halt mal deine Klappe, die Nachrichten beginnen.«

      »Thierry«, wiederholte Aziz, froh ihn beim Namen nennen zu können.

      Thierry Rodenbach rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenspitze und nestelte nervös an den Knöpfen seines rosa Hemdes; ihm war plötzlich heiss, er schwitzte und verlangte, dass Luc endlich die Klimaanlage einschalte.

      »Funktioniert mit Klimaautomatik, hält die Temperatur auf konstant 23 Grad.«

      »Dann öffne die Fenster. Ich krepiere.«

      »Zieh die Jacke aus.«

      »Ich ersticke, hier fehlt Sauerstoff! In diesem Karren wird einem übel. So eine verdammte Dreckskiste!«

      »Halt die Fresse«, brüllte Luc und schlug mit der flachen Hand auf die Ablage.

      »Die Fenster bleiben zu«, bestimmte Aziz und war überrascht, welche Autorität ihm die Waffe verlieh: Nicht ein Murren war zu vernehmen, nur die Radiostimme kündete eine Sondersendung an.

       Radio France Info, 16:30 Uhr:

       ›Marianne Blésier, Sie befinden sich in Orange.‹

       ›Bonjour Cedric Crissier. Es herrscht Unklarheit, was genau passiert ist. Der Tatort befindet sich am Cours Aristide Briand, einem Parkplatz eingangs der Altstadt. Ersten Berichten zufolge schossen mehrere bewaffnete Männer auf eine Polizeieinheit, die sich vor dem Stadttheater aufhielt. Es heisst, dass einige der Täter fliehen konnten.‹

       ›Wie ist die aktuelle Situation in Orange, Marianne Blésier?‹

       ›Die Rettungsteams sind eingetroffen, man spricht von mindestens zwei Toten und zahlreichen Verletzten, darunter Zivilisten, die sich dort aufhielten … Ich erhalte eben eine Meldung, dass ein Juweliergeschäft überfallen wurde … Die Polizei durchkämmt die Altstadt nach weiteren Tätern.‹

       ›Gibt es Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund?‹

       ›Noch ist nichts sicher, erste Zeugenaussagen deuten darauf hin.‹

       ›Marianne Blésier, danke für Ihre ersten Einschätzungen.‹

      »Das genügt wohl«, meinte Luc und stellte das Radio leiser. Er lenkte den Lkw über eine Brücke und eine langgezogene Linkskurve auf die A7, die Autoroute de soleil, die von Marseille nach Lyon führte.

      Polizeifahrzeuge waren keine zu sehen, dafür kreisten blauweisse Helikopter am pastellfarbenen Vorabendhimmel. Luc kannte die kleine Stadt, in der das Attentat geschehen war. Auch den Parkplatz, auf dem die Einheimischen täglich um die freien Plätze kämpfen mussten mit Touristen, die von weit hergereist waren, um das römische Erbe des Städtchens zu sehen, die verwinkelten Gassen und die historischen, von Platanen beschatteten Plätze.

      Thierry schaute mit zusammengekniffenen Augen zu einem Helikopter, der in geringer Höhe über der Autobahn kreiste – zu gerne hätte er gewunken, geschrien, eine Leuchtrakete geschossen, die rot brennend bogenförmig in den Himmel gestiegen wäre. Oder wenigstens einen Rettungsring aus dem Fenster geschmissen. Warten und sich dem Schicksal überlassen: das war nichts für ihn. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, wenn er sein Leben nicht gefährden wollte. Er brauchte einen Plan und einen kühlen Kopf. Beides fehlte.

      »Ich fahre über Lyon«, erklärte Luc.

      Niemand antwortete. Nach einer unangenehm langen Pause sagte Aziz: »Ich habe mit diesem Attentat nichts zu tun.«

      »Es sieht aber danach aus, Aziz«, entgegnete Luc.

      »Aziz«, wiederholte Thierry, den letzten Konsonanten liess er lange nachzischen. Er starrte aus dem Seitenfenster, die allmählich grüner werdende Landschaft zog an ihm vorbei. Er überlegte. Ein Plan musste her, der a) den Terroristen beseitigt und b) ihn zu Juliette zurückbringt. Obwohl, dachte Thierry, b) ist unwichtig. Er hatte ja noch Anna, fast genauso hübsch, aber weniger hysterisch. Er tastete nach ihrem Handy in seiner Jackentasche.

      Ob er versuchen sollte, einen Notruf zu senden?

      Wenn er das Gerät vor Aziz verborgen hielt, sah Luc ihn die Nachricht schreiben. Thierry beschlich das ungute Gefühl, dass sich der Fahrer verdächtig gut mit Aziz verstand. Zu gut. Schon die Blicke, die sich die beiden zugeworfen hatten, als er eingestiegen war. Auch fuhr Luc seltsam ruhig, gerade so, als handelte es sich um eine gewöhnliche Fahrt. Wollte er überleben, musste er rausfinden, was hier wirklich gespielt wurde. Strategisch denken und vorgehen. Mit möglichst unverfänglichem Tonfall fragte er: »Was transportierst du eigentlich in deinem Anhänger?«

      »Orangen, aber nicht nur.«

      »Von Spanien in die Schweiz?«

      »Nach Aarau, genaugenommen.«

      »Das machst du gerne? So alleine herumfahren?«

      »Alleine, schön wär‘s. Sieh dich mal um!«

      Aziz räusperte sich.

      Thierry und Luc verstummten gehorsam.

      Wie eine Spinne hockte der Maghrebiner auf der Ruheliege und kontrollierte aus dem Halbdunkel seine Geiseln. Thierrys Bein begann zu zittern; er war einem Feind ausgesetzt, dem er nicht in die Augen sehen konnte, ohne Möglichkeit zur Flucht oder wenigstens zur Konfrontation. Düstere Phantasien über den weiteren Verlauf begannen in seinem Kopf zu spuken.

      Luc blieb schweigsam und ruhig. Es galt abzuwarten. Entgegen der offensichtlichen Situation gelangte er allmählich zur Überzeugung, dass die eigentliche Gefahr eher von Thierry ausging; er schien unberechenbar, da er sich sowohl von Aziz als auch ihm bedroht zu fühlen schien. Bei Montélimar beruhigte sich Thierry, die gehetzten Blicke und das Nesteln an Kleidern und Gesicht verschwanden, dafür machte er jetzt einen seltsam apathischen Eindruck.

      Hoffentlich ist er nur schläfrig, dachte Luc und verscheuchte seine zwiespältigen Gefühle über Thierrys psychische Verfassung. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Aziz. Dem ist recht, wenn er vergessen wird, urteilte Luc und merkte, dass ihm dieser junge Mann unter anderen Umständen durchaus sympathisch hätte sein können.

      »Vor Lyon fahren wir durch eine Zahlstelle. Ich werde auf der Lastwagenspur erfasst und abgerechnet, alles elektronisch«, erklärte Luc. »Erfahrungsgemäss gibt es vor oder nach der Stadt Polizeikontrollen, vielleicht auch vor und nach. Wenn ihr ruhig bleibt, gibt es keine Schwierigkeiten. Merkt euch: unauffällig ist ungefährlich. Ich will keinen Ärger mit euch Komikern.«

      Thierry schüttelte angewidert den Kopf. Für ihn war das Fluchthilfe. So einfach durfte der Typ nicht entkommen, wie auch immer er in das Attentat verwickelt gewesen war.

      Nach und nach brummte der Motor die erregten Gemüter der Männer in eine Art meditative Lethargie. Sie hingen ihren Gedanken nach, die vom Stress verspannten Muskeln begannen sich zu lösen. Luc lockerte die Halsmuskulatur und Thierry verspürte einen steigenden Druck auf der Blase.

       6

      Unter dem Dachvorsprung zog Francine Courvoisier


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