Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten. Pirmin Müller

Das Restrisiko beim Transport von Südfrüchten - Pirmin Müller


Скачать книгу
erklär dir alles und so oft du willst.«

      »Einverstanden«, erwiderte Aziz nach einigem Bedenken. »Du scheinst ein vernünftiger Mann zu sein.«

      »Davon kannst du ausgehen.«

      Thierry Rodenbach tippte eine Nachricht in sein Handy, als er aus den Augenwinkeln sah, wie der Auspuff des weissen Scania eine Wolke ausstiess und die Tagfahrlichter angingen. »Das Arschloch haut ab!«, stellte er ungläubig fest. »Das gibt es doch gar nicht.«

      Mit der Tasche unter dem Arm stürmte er auf den Lkw zu, riss die Beifahrertür auf, sprang in einem Satz auf das oberste Trittbrett und schwang sich in die Kabine.

      »Einfach abhauen, ohne mich, das würde dir so passen! So eine Scheisse, wir haben eine Abmachung!«, brüllte Thierry, den Motor übertönend. Er setzte sich wütend auf den Beifahrersitz, sah sich um und bemerkte die weit aufgerissenen Augen eines Mannes, der eine Waffe auf seinen Kopf richtete. Augenblicklich erstarrte er, sein Mund klappte auf, selbst sein Herz fiel vor Schreck aus dem Rhythmus.

      »Halt die Fresse! Ein Fehler und du bist kaputt!«, warnte Aziz, während sein Zeigefinger am Abzug der Pistole zuckelte.

      Thierry verstand sofort: Dieser Mann meint es ernst, der schiesst. Der spasst nicht. Ganz langsam zog er die Tür zu, die Tasche stellte er vorsichtig zwischen die Sitze. Er wartete. Ihn beschlich das eigentümliche Gefühl, dass er von Luc abfällig gemustert wurde. Aziz nahm die Tasche, durchsuchte sie, fand in der Seitentasche ein Handy und die Kopie eines Führerscheins, der auf Thierry Rodenbach ausgestellt war. Das Dokument legte er neben sich auf die Liege, das Handy steckte er vorerst in seine Trainingshose, mit der unbestimmten Absicht, irgendwann später darauf zurückzukommen. Anschliessend stellte er die Tasche zurück neben den Beifahrersitz, zögerte kurz, änderte seine Meinung und platzierte sie unterhalb der Liege, genau hinter Thierry.

      Warum hatte Luc nichts von diesem Typen gesagt, fragte sich Aziz. Sie hatten doch eben eine Lösung gefunden.

      Er durfte keinesfalls Furcht zeigen. Also drohte er in überheblich-aggressivem Ton: »Was immer hier gespielt wird: es ist mir egal. Ich habe keine Angst. Wenn ihr nicht macht, was ich sage, veranstalte ich ein Blutbad. Mit euch, wie nichts!«

      Thierrys Blick hastete vom Parkplatz zu seinen Mitfahrern und wieder zurück.

      Misstrauen erfüllte die Kabine mit einem Geruch von Angst, Aggression und einer Atmosphäre aus Verdächtigungen, abschätzenden Blicken und einer mühevoll unter Kontrolle gehaltenen Panik. Luc umklammerte die Handbremse, als wäre sie ein Rettungsanker. Einzelne Schweissperlen bahnten sich einen Weg von den Schläfen über die Wangenknochen, wo sie sich in verschiedene Richtungen teilten. Thierry versuchte, einen Ton von sich zu geben, brachte aber nur ein Krächzen zustande.

      »Nun fahr endlich los!«, befahl Aziz. »Worauf wartest du?«

      »Von rechts kommt jemand«, sagte Luc, zwei tiefe Falten bildeten sich in seinen Mundwinkeln.

      Ein staubiger, in die Jahre gekommener Laster mit schaukelndem Anhänger ruckelte vorbei. Der Fahrer grüsste achtlos und steuerte seinen Lastzug in die grosse Kurve, die das Wäldchen auf der anderen Seite halbkreisförmig begrenzte.

      Luc löste die Handbremse, die er nach wie vor eisern festhielt. Behutsam drückte er das Gaspedal, der Lkw setzte sich sanft in Bewegung. Er fuhr um die Pinien und beschleunigte in der folgenden Rechtskurve, die auf eine langgezogene Ausfahrt führte. Dort setzte er den Blinker und lenkte den mit Südfrüchten beladenen Lastzug auf die Autobahn.

      Madame de Rhime, eine ältere, in letzter Zeit etwas verwirrte Dame mit üppigem Silberschmuck und Foulard, hielt mit ihrem Peugeot an der gezackten Linie, um einem Lkw den Vortritt zu gewähren. Unwillkürlich duckte sie sich hinters Lenkrad, als dieser mit überhöhter Geschwindigkeit an ihr vorbeidonnerte. Sie verfluchte den Idioten von Fahrer, während aus ihrem Lautsprecher ein hörbar mitgenommener Radiosprecher von einem Attentat in Orange berichtete. Mit einem grosszügig bemessenen Sicherheitsabstand folgte sie dem Lkw auf die Ausfahrt. Sie war auf dem Weg zu ihrer Tochter, dem ersten Besuch seit dem Zerwürfnis an Ostern. In einem Korb auf dem Beifahrersitz dufteten selbstgebackene Olivenbrötchen, ein Versöhnungsgeschenk für das gemeinsame Abendessen.

      Die von der Sommerhitze ausgebleichte Landschaft zog an ihrem Wagen vorbei, die abgeernteten Rebstöcke in den Weingütern waren in weiches mediterranes Licht getaucht, der wolkenlos blaue Himmel einzig durch eine schwarze Rauchsäule getrübt, die aus einem Feld nahe der Autobahn aufstieg. Jemand verbrannte Holz, Unkraut und was ihm sonst gerade überflüssig erschien. Vor der Rhonebrücke setzte Madame de Rhime den Blinker und überholte zügig den weissen Lkw. Auf eine unbestimmbare Art fühlte sie sich erleichtert, als in ihrem Rückspiegel der Sattelschlepper kleiner und kleiner wurde.

       4

      Der Weg über die steinernen Stufen zum prächtigen, mit Säulen eingefassten Eingang des Bezirksgerichtes war bereits bedrückend gewesen, doch nichts im Vergleich mit dem Gerichtssaal, Amtszimmer 448, in dem Luc jetzt alleine an einem zu grossen braunen Tisch sass, die Ellenbogen aufgestützt und die Hände vor dem eingezogenen Kopf ineinander verschränkt. Er hatte die Scheidung nicht gewollt, Muriel hatte sie eingereicht. Er hatte sich gewehrt und versprochen, was er meinte, versprechen zu müssen. Aber Muriels Entschluss blieb unverrückbar wie ihr Glaube, dass irgendwo da draussen der passende Mann auf sie warte.

      Niemand würde je ihren Ansprüchen genügen, hatte Luc ihr wieder und wieder erklärt, das Problem sei sie selbst. Doch ausser eskalierendem Streit und giftigen Anschuldigungen hatte er nie etwas erreicht. Dazu geisterte sein Töchterchen Lara-Lea – auch so ein Zwang, als ob Lara oder Lea nicht gereicht hätte – verstört durch die Wohnung, den Stoffhund an sich gedrückt, als wäre er ihr einziger Schutz auf dieser Welt. Dieser Anblick brachte Luc erst recht in Rage: Er fluchte, warf Teller zu Boden, zweimal zerstörte er die Kaffeemaschine. Und einmal schlug er zu. Hart und mitten ins Gesicht.

      Zu seiner Linken, an einem identischen Tisch, sass Muriel mit ihrem Anwalt, weichlicher Typ mit dünnem Lächeln, der sie dauernd am Arm berührte. Ob sie was mit ihm hat? Er wollte für seine Rechte kämpfen; aber hier gab es nichts, das Widerstand geboten hätte. Der Richter, leicht erhöht, sah mit wässrigen Augen gelangweilt durch ihn hindurch. Hier ordnete sich alles der unsichtbaren Macht der Amtshandlungen unter, selbst die heiteren Landschaftsaquarelle an den Wänden wirkten unterwürfig, so, als ob ihnen die Farbenpracht peinlich wäre. Luc biss auf die Lippen, bittere Tränen rannen über seine Wangen, die von Muriel mit Genugtuung beobachtet wurden. Zweimal atmete er hörbar ein und aus, dann unterschrieb er die vorbereiteten Dokumente. Seine Ex-Frau betrachtete kühl, wie er die Seiten ordnete, bevor er sie in der Tischecke platzierte. Sie schüttelte den Kopf, nicht abfällig, eher bemitleidend. Das herablassende Mitgefühl derjenigen, die sich überlegen fühlen.

      Luc wartete, bis der Anwalt Muriel aus dem Saal geführt hatte, ihren Ellenbogen stützend, als stünde sie vor einem Zusammenbruch, dabei hatte sie mehr bekommen, als sie erhofft hatte. Er blieb sitzen. Ob er nun ging oder blieb, es änderte nichts. Der Richter, zu gleichgültig, um die Lügen zu durchschauen, wies ihn darauf hin, dass der nächste Fall vor der Tür stehe. Da Luc keine Anstalten machte, ging er zu ihm, klopfte tadelnd auf die Schulter und liess seine kraftlose Hand dort ruhen.

      »Monsieur Rapin? Es wäre Zeit …«

      Luc schüttelte den Kopf und senkte den Blick.

      »Kommen Sie, Monsieur Rapin.«

      Er schob Luc die eine Hand unter die Achsel, die andere seitlich an den Oberarm, mit sanftem Druck half er ihm auf die Füsse. »Die ersten Schritte sind die schwersten, aber glauben Sie mir, danach wird es einfacher«, ermutigte der Richter. »Lassen Sie sich Zeit, es gibt ein Leben danach.« Luc liess sich zur Ausgangstüre begleiten. Vor der Schwelle blieb er stehen und meinte abschätzig: »Gehen Sie in den Gerichtssaal, da gehören Sie hin.«

      Der Audi Quattro Turbo, Baujahr 89, stand abseits in einer Seitenstrasse. Er setzte sich hinein, startete den Motor und fuhr aus der Stadt. In einem Vorortskreisel nahm er die Ausfahrt, die bergan führte.


Скачать книгу