Verborgener Ruhm. Dietmar Grieser
Bauern entrüstet und riefen: ›Des is’ ja d’ Adlerin und nit an Eichtel die Muttergottes!‹«
Heute, 117 Jahre nach dem unerhörten »Frevel«, eine Andersgläubige und obendrein Exponentin der »linken Reichshälfte« für eine katholische Devotionalie einzuspannen, hat die seinerzeitige Affäre nur noch Kuriositätswert, und diejenigen, die davon wissen, versäumen bei ihrem Attersee-Aufenthalt nicht, der Nußdorfer Pfarrkirche einen Besuch abzustatten und den »Stein des Anstoßes«, der nach wie vor seinen angestammten Platz an der Wand des linken Seitenaltars einnimmt, zu bestaunen.
Wer sich damit nicht begnügt, sondern mehr über Emma Adler wissen will, ist auf die einschlägigen Bibliotheken angewiesen, und siehe da, er wird Leben und Werk einer Frau kennenlernen, die es in der Tat wert ist, der Vergessenheit entrissen zu werden …
Im ungarischen Debrecen, das sowohl während der Revolution von 1848/49 wie auch nach dem Einmarsch der Sowjets 1944/45 vorübergehend Regierungssitz (und geschichtlich Uninteressierten zumindest durch eine nach ihm benannte, auch in Österreich populäre Wurstsorte vertraut) ist, kommt Emma Braun 1859 zur Welt. Der Vater ist im Eisenbahnbau tätig; ein Muster an Disziplin und Ehrgeiz, findet man ihn während der warmen Jahreszeit schon um 4 Uhr morgens an seinem Arbeitsplatz, wo er die Errichtung der wichtigen Bahnstrecke nach Budapest beaufsichtigt. Auch von seinen sieben Kindern erwartet der Herrisch-Strenge überdurchschnittlichen Fleiß.
Sohn Heinrich, Emmas Lieblingsbruder, wird es später bis zum führenden Publizisten der deutschen Sozialdemokratie bringen; einer seiner Mitschüler am Akademischen Gymnasium in Wien ist Sigmund Freud. Und er, Heinrich Braun, ist es auch, der Emmas Ehe »stiftet«: Nur zwei Männer, so sagt er, seien seiner ebenso schönen wie klugen Schwester würdig – Friedrich Nietzsche und Victor Adler. Daß es letzterer ist, der das »Rennen« macht, hat Bruder Heinrich eingefädelt: Der Prager Millionärssohn und nunmehrige Jungarzt für Neurologie Victor Adler, sieben Jahre älter als Emma, lernt seine künftige Frau beim gemeinsamen Musizieren kennen. Sie sitzt am Klavier und spielt Beethoven, er blättert die Noten um. Auch Goethe ist ein Thema, das die beiden jungen Menschen miteinander verbindet. 1878 wird geheiratet.
Als sich Victor Adler der Politik zuwendet, wird Emma seine engste und eifrigste Mitstreiterin. Während er sein gesamtes elterliches Erbe in die noch junge Arbeiterbewegung steckt, nimmt sie, die gleichfalls aus wohlhabenden Verhältnissen kommt, jedwede Entbehrung auf sich, um dem von ihrem Mann vorgegebenen Ziel zu dienen: Als am 1. Mai 1890 die Wiener Arbeiter zum Mai-Aufmarsch in den Prater strömen, steckt sie ihre Kinder ins Bett und schließt sich dem Demonstrationszug an.
Umfassend gebildet und in mehreren Fremdsprachen sattelfest, macht sich Emma Adler mit Vorträgen und Sprachkursen im »Arbeiter-Bildungsverein« nützlich. Außerdem redigiert sie die Jugendbeilage der »Arbeiter-Zeitung«, gibt Sammelwerke wie »Bücher der Jugend« heraus, übersetzt englische, italienische und russische Belletristik ins Deutsche, schreibt Abhandlungen über »Die Frauen der Großen Französischen Revolution« und über »Goethe und die Frau von Stein«. Auch ihre Erfahrungen mit dem Armeleuteleben der Attersee-Bauern, das sie während des alljährlichen Urlaubs im kleinen Parschallen kennengelernt hat, finden ihren Niederschlag in einer ihrer zahlreichen Veröffentlichungen: Emma Adlers Studie »Bauerndasein« erscheint 1898 im österreichischen »Arbeiter-Kalender«.
Schon zuvor hat sie in einem Aufruf die Werktätigen ihres Landes dazu animiert, zur Feder zu greifen und über ihr Leben zu berichten. »Es wird die Leser«, so schreibt sie im Vorwort des auf diese Weise zustandekommenden Sammelbandes, »gewiß interessieren, zu erfahren, wie Leute, die schon in frühester Kindheit den Kampf ums Dasein aufnehmen mußten und nicht einmal die geringe Schulbildung der heutigen Proletarierjugend genossen haben, es dazu gebracht haben, ihre Gedanken so frisch mitzuteilen, daß diese Beiträge zu den besten des Buches gehören.« Eine Spinnerin, ein Schneider, ein Weber und ein Glasschleifer debütieren unter ihrer Anleitung als Autoren.
Nur ihre eigenen Probleme behält Emma Adler für sich: Als Marie, eines ihrer drei Kinder aus der Ehe mit Victor Adler, zum Dauerfall für die Psychiatrie wird, verfällt auch sie in schwerste Depressionen. Zwei Selbstmordversuche sind die Folge: Seit dem 11. November 1918 Witwe, will sich die auch über die Gewalttat ihres Sohnes Friedrich Verzweifelte (der am 21. Oktober 1916 aus Protest gegen dessen Kriegspolitik den amtierenden Ministerpräsidenten Graf Stürkh erschossen hat) aus dem Fenster stürzen.
Gleichwohl wird sie ihren Lebensabend – Emma Adler stirbt am 23. Februar 1935 im Alter von 75 Jahren – an der Seite ihres Sohnes im Schweizer Exil zubringen: Der zum Tod verurteilte Friedrich Adler ist nach dem Zusammenbruch der Habsburger-Monarchie amnestiert worden und hat sich als Sekretär der Sozialistischen Internationale in Zürich niedergelassen.
In ihrem Testament äußert Emma Adler die Befürchtung, sie könnte als Gattin des prominenten Politikers Victor Adler nach ihrem eigenen Hinscheiden ebenfalls »in Wort und Schrift verherrlicht«, ja mit »Tugenden und Talenten« ausgestattet werden, die sie »nie besessen« habe. Um dies zu vermeiden, verfüge sie, »in Ruhe und wortlos der Erde übergeben zu werden«. Ihrem Wunsch wird entsprochen: Die Beisetzung auf dem Zürcher Friedhof Rehalp findet in aller Stille statt.
Keine Feministin wie jede andere
Die Schriftstellerin Sir Galahad alias Bertha Eckstein-Diener
Sir Galahad, so weiß jeder, der beim Thema Artus-Sage gut aufgepaßt hat, ist jener makellose Gralsritter, den Lancelot mit seiner Elaine gezeugt hat: eine Art englisches Gegenstück zu »unserem« Parsifal. Schwer vorstellbar, daß diese mythische Lichtgestalt zur Feder gegriffen und eigene Werke hinterlassen haben sollte. Ist er nicht überhaupt nur eine mittelalterliche Phantasiefigur, von der keinerlei reale Lebensdaten überliefert sind? Und doch: Jedem einigermaßen bewanderten Buchhändler ist der wohlklingende Name geläufig, und der Kollege von der Antiquariatsabteilung wird dem Kunden vielleicht sogar eine ganze Reihe von Titeln vorlegen, die Sir Galahad zum Autor haben – zumindest den Longseller »Mütter und Amazonen«. Des Rätsels Lösung: Sir Galahad ist ein Pseudonym. Ein Pseudonym, hinter dem sich übrigens kein Sir verbirgt, sondern – eine Lady. Ihr wirklicher Name: Bertha Eckstein. Oder, wenn man ihren Mädchennamen vorzieht, Bertha Diener.
Zum erstenmal taucht der Name Sir Galahad anno 1910 auf dem Buchmarkt auf, als die geheimnisvolle Autorin eine deutsche Übersetzung der Schriften des amerikanischen Essayisten Prentice Mulford vorlegt. »Der Unfug des Lebens und des Sterbens« ist eine originelle Kombination von neuplatonischer Philosophie und witziger Zivilisationskritik: genau das Richtige für die sechsunddreißigjährige Wienerin, deren ganzes Interesse der vergleichenden Kulturgeschichte gilt. Drei Jahre darauf debütiert sie mit ihrem ersten eigenen Werk: »Im Palast des Monos« ist eine romanhafte Aufarbeitung der kretischen Ausgrabungen des berühmten englischen Archäologen Sir Arthur Evans. Es folgen 1920 die autobiographischen Aufzeichnungen »Die Kegelschnitte Gottes«, 1925 ein mit Größen wie Dostojewski und Tolstoi rabiat abrechnender »Idiotenführer durch die russische Literatur« und schließlich 1932 ihr Hauptwerk »Mütter und Amazonen«.
Mit dieser ersten weiblichen Kulturgeschichte, einer zeitenund weltumspannenden Untersuchung der »Frauenreiche« und einem flammenden Plädoyer für die Überlegenheit mutterrechtlich organisierter Gesellschaften, landet Sir Galahad alias Bertha Eckstein einen Bestseller, der bis in unsere Tage immer wieder Neuauflagen erlebt. Von der Frauenbewegung des ausgehenden 20. Jahrhunderts zur Kultfigur erhoben, sieht sie sich selber allerdings keineswegs als Feministin: Da das Patriarchat ihrer Ansicht nach ohnedies dem Untergang geweiht sei, hält sie jegliche weiblichen Emanzipationsanstrengungen für schlicht überflüssig.
»Mütter und Amazonen« sorgt also für Gesprächsstoff, und auch wer mit den in dem 350-Seiten-Band vertretenen provokanten Thesen wenig anzufangen weiß, zollt der streitlustigen Autorin Respekt: Ihre Lebensgeschichte ist so über alle Maßen interessant, daß es schlechterdings unmöglich ist, davon nicht gefesselt zu sein. Wieder einmal ist es das legendäre »Wien um 1900«, das Wien ihrer Generationsgenossen Hugo von Hofmannstal, Richard von Schaukal und Karl Kraus, dem in Gestalt dieser Bertha Eckstein geborene Diener ein Frauenschicksal entwächst, das weit und breit seinesgleichen