Morgen ist woanders. Elisabeth Etz
weg war. Aber damit ist sie keine Ausnahme. Es gibt viele Menschen, denen ich nachschaue. Ich sehe Menschen gerne an. Das ist einfacher, als mit ihnen zu reden.
Jetzt sieht sie mir direkt in die Augen und drückt mir ein Bier in die Hand. »Halt mal«, sagt sie und ich tue, was sie sagt. Halte ihr Bier und sehe ihr schon wieder nach. Sie schiebt sich an ein paar Herumstehenden vorbei und springt zu einem Mädchen auf die Bühne, die Anthony aus zusammengeschobenen Tischen gebaut hat.
Anthony hat die größte Auswahl an Karaoke-Liedern, die ich kenne. Ich kann Karaoke nichts abgewinnen, aber die meisten drehen total durch, wenn sie Anthonys Bühne sehen, und tragen sich reihenweise in Listen ein.
Anthony selbst verbringt einen großen Teil seiner Partys hinter dem Laptop, aber das scheint ihn nicht zu stören. Er schaltet die Musik zu und Nadines Freundin beginnt, ins Mikrofon zu grölen. Nadine macht Background Vocals. Ich kenne das Lied nicht, aber es klingt nicht so, als wären im Original Background Vocals vorgesehen. Die Freundin springt wild herum und brüllt ins Mikro, Nadine bekommt einen Lachanfall und kann nicht weitersingen. Sie hüpft nur noch kichernd auf der Bühne herum.
Inzwischen ist mir Lukas gefolgt. Er stößt mich an und verdreht die Augen. »Die spinnen echt.« Dann greift er nach der Bierflasche in meiner Hand.
Ich halte sie fest. »Geht nicht. Die gehört Nadine.« Auch wenn ich mir vorgenommen habe, heute nur Englisch zu reden, mit Lukas kann ich das nicht. Englisch ist sein wunder Punkt. Besser gesagt ist die Klein sein wunder Punkt und die ist blöderweise unsere Englischlehrerin.
»Ach komm. Die hat doch schon längst drauf vergessen.«
Ich schüttle den Kopf und lasse die Flasche nicht los. Lukas zuckt die Achseln und macht sich auf Richtung Küche, um sich eine eigene zu holen. Als er zurückkommt, ist Jeremy fast schon verschwunden. Mit Lukas zusammen funktioniert Jeremy nicht.
Das Letzte, was von Jeremy noch da ist, ist Nadines Bierflasche. Es tut gut, sie zu halten und Nadine zuzusehen. Es ist eine schöne, einfache Aufgabe. Immer wieder nehme ich einen Schluck davon. Eigentlich will ich gar nicht mehr, als schauen, aber als Nadine fertig gesungen hat, kommt sie zu mir. Das will ich gar nicht. Sie soll da oben bleiben, auf der Bühne. Oder sich von mir aus mit jemandem neben mir unterhalten. Irgendetwas tun, wobei ich ihr zuschauen kann. Aber nicht mit mir reden. Doch sie steuert zielstrebig auf mich zu.
»Ist nichts mehr drin«, sage ich entschuldigend, als sie bei mir angelangt ist. »Tut mir leid. Ich hol dir ein neues.«
Mit dem frischen Bier in der Hand versuche ich, einen Weg zu Nadine zu finden, ohne wieder an Lukas vorbeizumüssen. Ich würde jetzt gerne mit ihr reden. Was auch immer, Jeremy würde schon etwas einfallen. Er würde sie in ein Gespräch verwickeln, über Background Vocals, über Biersorten, über Anthony oder auch nur übers Wetter. Whatever.
Aber Lukas lässt mich nicht. Lukas fühlt sich auf Partys genauso komisch wie Jakob und passt mich an der Wohnzimmertür ab. Mit Lukas an der Seite schafft es Jakob gerade noch, Nadine das Bier in die Hand zu drücken und auf ihr Lächeln ein bisschen den Mund zu verziehen, bevor er sich umdreht und den Raum verlässt.
Ich versuche mir einzureden, dass es mir egal ist.
Gegen drei gehen auch die Letzten und ich lasse mich auf die Couch fallen. In meinem Rucksack ist mein Pyjama, aber ich bin zu müde, um ihn auszupacken. In Jeans und Pulli wickle ich mich in die Decke, die Anthony mir zugeworfen hat.
Lukas ist schon eine Zeit lang weg, seine Mutter hat ihn mit dem Auto abgeholt. Macht sie oft. Sie ist eine Nachteule, meint sie, und es stört sie nicht, um zwei Uhr früh durch die Gegend zu fahren. Bis jetzt hat sie mich immer mitgenommen. Aber ich muss da nicht mehr hinaus. Ich wohne jetzt in der Stadt. Ich ziehe die Decke enger um mich, drehe mich zur Seite und lächle ins Sofa hinein.
Ich muss da nicht mehr hin.
Ich wache davon auf, dass Anthony rund um die Couch Sachen einsammelt.
»Sorry«, flüstert er, als er merkt, dass er mich geweckt hat. »Irgendwann muss ich damit anfangen.«
»Schon okay«, murmle ich verschlafen.
Anthony grinst. »Mit dem Staubsaugen warte ich noch, keine Sorge.«
Ich döse nochmal ein, schrecke aber gleich wieder hoch, als die Türklingel läutet. Wenig später höre ich Nadines Stimme im Vorzimmer. »Die muss irgendwo hier liegen.«
»Hast du Nadines Geldbörse gesehen?«, ruft Anthony.
Ich antworte nicht, denn ich bin offiziell wieder eingeschlafen. Gesehen habe ich sie so oder so nicht.
Anthony und Nadine kommen ins Wohnzimmer. »So ein Scheiß«, flucht Nadine.
»War da viel drin?«
»Geld nicht, aber Schülerausweis und so.«
»Liegt bestimmt hier irgendwo«, sagt Anthony. »Du hast den ganzen Nachmittag Zeit zum Suchen.«
Ich höre, wie Nadine Türen öffnet und schließt, Mäntel an der Garderobe durchsucht und Gläser auf die Seite schiebt. Lange geht das so. Anthonys Haus ist groß.
Dann beugt sie sich über mich und kramt hinter der Couch herum, auf der ich liege. Ich halte die Augen geschlossen und bemühe mich, gleichmäßig zu atmen. Schließlich schlafe ich und wache nicht auf, nur weil Nadines Arm über meinem Gesicht ist. Nadine riecht nach Gewürzen, die ich nicht kenne. Ich weiß nicht, ob das ihr Shampoo ist oder ihr Deo. Ich weiß nur, es bringt mich völlig durcheinander.
Ich stelle mir vor, wie sie den Arm einfach auf meine Brust fallen lässt und sich neben mich legt, und dann versuche ich schnell, mir etwas anderes vorzustellen, weil das mit dem gleichmäßigen Atmen nun überhaupt nicht mehr funktioniert und ich mir nicht vorstellen will, wie Nadine reagiert, wenn sie das merkt.
Schließlich sucht sie bloß ihre Geldbörse und stellt viel zu schnell fest, dass sich diese definitiv nicht hinter der Couch befindet.
Ich muss nochmal eingeschlafen sein, denn das Nächste, was ich sehe, sind die Rücken von Nadine und Anthony. An meine Couch gelehnt sitzen sie vor dem Bildschirm und spielen Autorennen ohne Ton.
Nadine dreht sich zu mir um. »Guten Morgen!«
»Endlich!« Anthony dreht den Ton auf. »So machts doch gleich viel mehr Spaß.«
Mein Rücken tut weh und ich habe einen komischen Geschmack im Mund. Außerdem muss ich aufs Klo. »Ich geh mal duschen«, sage ich.
Das ist etwas, was ich von Jeremy schnell gelernt habe. Mich immer gleich zuhause zu fühlen oder zumindest so zu tun, als ob.
In der Dusche fällt mir auf, dass jemand in Anthoys Haushalt das gleiche Duschgel benutzt wie Andi blueballoon. Aus dem Wohnzimmer höre ich die Musik düdeln und Nadine fluchen. Dann drehe ich den Duschstrahl auf.
Mit Sandelholzduft im Haar fühle ich mich gleich ein bisschen mutiger. Zurück im Wohnzimmer tippe ich Anthony auf die Schulter. »Kann ich auch mal?«
»Sicher.« Ohne zu zögern drückt er mir den Controller in die Hand, woraufhin sein Fahrzeug prompt von der Strecke fällt und von einer lächelnden Wolke wieder nach oben gebracht wird.
»Doch nicht mitten im Spiel!« Ich versuche, das Beste aus der Situation zu machen, kriege aber den Wagen nicht mehr auf eine gerade Spur, so sehr ich mich auch bemühe. Egal, es gibt noch eine Runde. Und eine nächste. Und übernächste.
Nach diesem Nachmittag weiß ich noch immer nicht viel über Nadine. Ich weiß, dass sie nicht singen kann und verdammt gut Mario Kart spielt. Weiß, dass sie ihre linke Augenbraue heben kann, ohne mit der rechten dasselbe zu tun. Und weil ich Sandelholz im Haar habe, habe ich sie gefragt, ob sie das auch umgekehrt vormachen kann. Rechts heben, links nicht. Konnte sie nicht.
»Und jetzt du«, hat sie mich aufgefordert und mich mit ihrer linken Augenbraue zum Lachen gebracht.
Aber bei mir ist da keine Chance. Nicht mal Jeremy kriegt die Brauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten hoch. Da heben sich immer beide.