Nach vorn. Elisabeth Etz
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ES WAR erstaunlich leicht, mich in der neuen Klasse einzuleben. Die ersten Wochen blieb alles ganz nett. Nichts Besonderes, aber okay. Du hattest eine schwere Zeit, jetzt geht’s bergauf. Du wirst nicht mehr sterben. Du gehörst jetzt wieder dazu. Zu uns.
Das Problem war nur, dass ich ziemlich bald merkte, dass es kein uns gab, zu dem ich gehören wollte. Nicht, dass sie mich nicht gewollt hätten. Meine neue Klasse war ein Ausbund an Klassengemeinschaft. Ein paar kannten Nono schon, weil er gutes Gras vercheckte, ein Bonus, den er mir voraus hatte. Aber auch ich hatte keine Schwierigkeiten. Ich hatte das Gefühl, die Welt mochte mich. Bloß war ich mir nicht sicher, ob das auf Gegenseitigkeit beruhte.
Alles war zu perfekt. Die Leute in meiner Klasse waren freundlich und unbeschwert. Lästereien hielten sich in Grenzen, und die, die sich nicht mochten, gingen sich aus dem Weg. In der Pause wurde gemeinsam voneinander abgeschrieben und wenn die Gangaufsicht kam, funktionierte das Warnsystem hervorragend. Am Klo wurde gemeinsam geraucht und, wenn Nono dabei war, gemeinsam gekifft. Nachrichten, die die Runde machten, wurden immer auch an mich geschickt, und ich bemühte mich, etwas Witziges oder Freundliches zurückzuschreiben. So wie man das in dieser Welt anscheinend erwartete.
Luna, Shirin und Julia haben ziemlich bald beschlossen, mich interessanter zu finden als Nono. Die drei waren nicht so auf Kiffen aus und ich auch nicht, eine Gemeinsamkeit hatten wir also schnell gefunden. Ich war lange genug zugedröhnt, das brauche ich jetzt nicht freiwillig, nein danke.
Ich habe schnell herausgefunden, dass Shirin und Julia die waren, die in der Klasse den Ton angaben, also war ich dankbar für ihr Freundschaftsangebot. Zuerst dachte ich, ich würde auch eine wie Luna werden, die den beiden einfach überallhin nachlief und lachte, wann immer die beiden etwas sagten. Wäre mir auch recht gewesen. Aber irgendwie scheinen mich Julia und Shirin ernsthaft interessant zu finden. Ich vermute, sie dichten mir eine mystische Aura an, so als wäre ich durch meine Krankheit in irgendwelche Tiefen hinabgestiegen, aus denen ich Weisheit mitgebracht hätte. Mit dem Hinabsteigen haben sie recht. Legt auch mein neuer Name nahe.
Denn Lena, das bin ich nicht mehr. Ich nenne mich Hel. Hel wie Hölle. Damit alle gleich wissen, woran sie sind.
Bei der Weisheit hingegen bin ich mir nicht so sicher. Aber ich war froh, dass ich mich gleich in den ersten Wochen an sie dranhängen konnte und wir nun zu viert durch die Gegend zogen. Ich konnte auch sehen, wie es die Lehrer freute, dass ich so schnell Anschluss fand. Die waren schließlich eingeweiht, manche haben mir im letzten Jahr Unterrichtsmaterialien zukommen lassen und teilweise sogar versucht, mir über Skype Privatstunden zu geben.
Mussten wir aber abbrechen. Mir ging es zu schlecht. Die Kids um mich rum waren ganz begeistert vom Unterricht, der auf der Station angeboten wurde. Die Kliniklehrerin, die zu allen kam, um mit ihnen zu lernen, war das Highlight ihres Tages. Aber die waren alle so klein und leicht zu begeistern.
Ich bin froh, dass wir über dieses Thema heute den Mantel des Schweigens breiten. Dass niemand mit mir darüber reden will. Denn ich soll nicht mehr an Rückfälle denken. Ich bin aufgestanden und jetzt geht es nach vorn.
Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich mag, was ich dort sehe.
Ich bin schnell draufgekommen, was die Dinge sind, die die anderen in meiner Klasse beschäftigen. Unglückliche Liebe. Verbote der Eltern. Streit mit der besten Freundin. Selbst Nono, der tut, als stünde er über den Dingen, leidet daran, dass Shirin ihn nicht beachtet.
„Du bist ihr zu entspannt“, formuliere ich es freundlich, wenn er sich bei mir ausheulen will. „Die will nicht nur abhängen, die steht nicht so auf Leistungsverweigerung. Die steht auf Typen, die was schaffen oder zumindest schaffen wollen.“
Typen wie Marc. Bloß hab den ich abgekriegt. Irgendwie war er plötzlich da. Mit sechs Anrufen in Abwesenheit. Alles Marc. Scheiße, wir hatten doch bloß rumgeknutscht. Da musste man doch nicht gleich sechs Mal anrufen.
Ich wusste, ich sollte zurückrufen. Sollte mich mit ihm treffen. Aufgeregt sein. Herzklopfen haben. Ihn vermutlich noch mal küssen. Mich ins Kino einladen lassen. Seine Eltern kennen lernen. Seine kleine Schwester süß finden. Das ganze Paket.
Ich wusste, dass mich abgesehen von Shirin noch mindestens drei weitere Mädchen und zwei Burschen aus meiner Klasse um den Kuss von Marc beneideten. Aber ich hatte es bloß getan, weil ich nichts Besseres zu tun hatte. Da war ich, da war Marc, da war ein Bier oder auch zwei. Da waren plötzlich wir beide. War halt so. War doch kein Grund, Telefonterror zu machen.
Ich hatte mich ein Jahr lang damit beschäftigt zu sterben, jetzt wollte ich mich endlich wieder damit beschäftigen zu leben. Bloß hatte ich irgendwie vergessen, wie das geht.
Während in den Kalendern der anderen die Termine für Partys und erste Dates immer mehr wurden, häuften sich in meinem bloß die Chemozyklen. Während ihre Körper das Gewand ablegten, um mit anderen Körpern das erste Mal ins Bett zu steigen, legte meiner die Sachen nur ab, um Infusionen angehängt zu bekommen. Das erste, zweite, hundertste Mal.
Während die anderen bei der Ärztin waren, um sich kleine Pillen verschreiben zu lassen, die fast 100-prozentig gegen neu entstehendes Leben schützten, bekam ich große Pillen gegen neu entstehendes Sterben. Wirksamkeit 75 Prozent.
Während die Eltern der anderen seufzten, weil sie zur vereinbarten Zeit nicht zu Hause waren, seufzten meine, weil ich schon wieder nicht nach Hause gehen konnte.
Während die anderen Vokabelhefte anlegten, hätte ich die ganzen neuen Vokabeln am liebsten sofort wieder vergessen. Vincristin, Rezidiv, Alopezie.
Natürlich habe ich Marc zurückgerufen und seither sind wir ein Paar. Ich habe ein Jahr verloren, vielleicht eineinhalb. So viel ist das nicht bei einer Lebenserwartung von, sagen wir mal, achtzig Jahren. Eine vernachlässigbare Größe. Ich muss einfach alles nachholen, was mir entgangen ist, dann werde ich mich vielleicht irgendwann gar nicht mehr daran erinnern können, dass da was fehlt. Dass da Zeit fehlt, gefehlt hat. Einfach alles nachholen. Nach vorn schauen.
Ich habe also jetzt einen Freund.
Immer wieder habe ich mich während der letzten zwei Jahre gefragt, ob ich das wohl noch erleben würde. Den ersten Kuss. Den ersten Freund.
Und jetzt ist er da. Der erste Kuss war zwar nicht besonders spektakulär, doch mit der Zeit wurde es besser. Marc sabbert auch nicht mehr so viel wie zu Beginn, aber vielleicht liegt das auch an mir.
Schließlich ist Marc der Profi und ich die Spätzünderin. Eigentlich könnte es mir peinlich sein. Ist es aber nicht.
Natürlich gibt es in meinem Leben noch Peinlichkeiten. Wenn ich was nicht weiß, oder merke, dass ich nicht ganz so cool rüberkomme, wie ich vorhatte, laufe ich innerlich knallrot an.
Aber meinem Körper ist nichts mehr peinlich. Der hat die entblößendsten Situationen schon hinter sich. Er hat gelernt, Peinlichkeitsgefühle zu ignorieren. Das habe ich ihm beigebracht.
Nach der Schule steht Marc mit einem Einkaufswagen vor dem Schultor.
„Wo hast’n den aufgetrieben?“
Marc grinst. „Setz dich rein“, fordert er mich auf.
Ich steige in den Wagen, schiebe seine Hand weg, die mir helfen will. Ich kann das alleine.
Kaum sitze ich, beginnt Marc den Einkaufswagen zu drehen. Ich stoße einen Schrei aus, aber dann halte ich mich einfach nur fest und lache. Marc hat die Arme überkreuzt und hält den Griff fest, ich weiß, dass er nicht loslassen wird. Nach und nach füllt sich der Platz vor der Schule, der Unterricht für viele Klassen endet jetzt.
Mir wird schwindlig, aber das ist mir egal. Ich genieße, dass ich weiß, woher der Schwindel kommt. Dass ich ihn jederzeit stoppen kann, indem ich den Wagen anhalte, denn Marc wird den Wagen anhalten, wenn ich es ihm sage.
Aber ich lasse ihn drehen, drehen, bis ich wirklich nicht mehr kann und Stopp schreien muss. „Stopp“, und Marc stoppt und ich falle aus dem Wagen, falle ihm in die Arme. Er hält sein Handy vor uns