Nach vorn. Elisabeth Etz

Nach vorn - Elisabeth Etz


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weniger angestrengt.

      Als ich wieder einigermaßen ruhig atmen kann, beginne ich auch wieder zu denken. Wie spät es wohl ist? Um auf meinem Handy nachzusehen, müsste ich es anschalten, doch das traue ich mich nicht. Marc ist es zuzutrauen, dass er weiterhin alle dreißig Sekunden anruft. Es muss noch vor Mitternacht sein, aber sicher bin ich mir nicht. Seufzend rapple ich mich auf, ziehe die Jacke diesmal richtig an und stapfe los. Erstmal zum nächsten großen Platz, auf dem sich ein Versicherungsgebäude befindet, das die Uhrzeit anzeigt.

      Noch nicht mal zweiundzwanzig Uhr. Erleichtert atme ich auf. Kann ich also noch nach Hause gehen.

      „Himmel, hast du uns erschreckt.“ Mein Vater steht im Durchgang zwischen Wohnzimmer und Vorraum und starrt auf die Wohnungstür, hinter der ich hervorkomme. „Ich hab schon an Einbrecher gedacht.“

      „Ich hab dir doch gesagt, um diese Uhrzeit bricht niemand ein“, höre ich die Stimme meiner Mutter.

      „Die wissen doch, dass da alle zuhause sind, aber noch nicht schlafen.“ Vorsichtig schließe ich die Eingangstür. „Sorry.“

      „Was machst du überhaupt hier? Wolltest du nicht …“

      „War ein Missverständnis“, lüge ich schnell. „Marc dachte, er hätte sturmfrei, aber seine Eltern sind doch heimgekommen und irgendwie war’s dann unangenehm. Da bin ich lieber wieder heim.“

      „Aha.“

      „Aber er kommt gerne am Wochenende vorbei. Sonntag. Zum Brunchen.“ Das sage ich schnell, bevor ich noch irgendetwas zu meinem plötzlichen Auftauchen gefragt werde.

      Mein Vater lächelt. „Schön. Ich freu mich, ihn kennenzulernen.“

      „Hat er irgendwelche Allergien?“ Meine Mutter aus dem Wohnzimmer. „Oder Intoleranzen? Laktose, Fruktose? Nüsse? Nur damit wir nichts Falsches einkaufen.“

      Allergien? Marc? Ha. Der doch nicht. Der ist die Gesundheit in Person. Kannst alles auftischen, Mama. Alles, was du willst.

      Ich werfe mich aufs Bett, aber das mit dem Schlafen funktioniert nicht. Ich versuche, tief und regelmäßig zu atmen, die Wut wegzuatmen und die Angst, so wie uns das die Psychologin auf der Onko beibringen wollte, die ich genauso weggeschickt habe wie die Cliniclowns, weil ich fand, dass sie für mich nicht zuständig waren.

      Das mit dem Atmen funktioniert auch nicht, die Dunkelheit liegt schwer auf mir, wie eine dicke Decke, unter der man keine Luft, dafür aber Alpträume kriegt. Träume von gelben Krankenhauswänden, von Freundinnen, die mich schockiert anstarren und immer wieder von Annette, die mir bei einer Nachsorgeuntersuchung schreckensbleich eröffnet, dass ich überall Metastasen und nur noch wenige Wochen zu leben habe. Ich verstehe nicht, wieso ich das ständig träume. Annette hat niemals so etwas gesagt, hätte das auch nicht so gesagt, selbst wenn es gestimmt hätte. Die war geschult darin, wie man Nachrichten überbringt.

      Sie hat mich immer glauben lassen wollen, dass ich es schaffen werde. Schon ganz zu Beginn, als alle um mein Bett gestanden sind und gerätselt haben, mit was für einem seltenen Tumor sie es da zu tun haben, hat sie Zuversicht ausgestrahlt. Als die erste Chemo nicht angeschlagen hat und die zweite auch nicht. Als selbst der Kamp die Augen aufriss und mir klar war, dass auch er keine Ahnung hatte, was er mit so einem seltenen Fall wie mir machen sollte.

      Denn das hatte ich. Etwas ganz Seltenes. Etwas, das eigentlich gar nicht vorkommt. Nierentumoren treten bei kleinen Kindern auf. Die überleben meistens. Oder bei Erwachsenen. Die überleben meistens nicht. Wie die Überlebensrate bei Jugendlichen war, war unbekannt. Die kriegten sowas normalerweise nicht.

      „Aber es gibt nichts, was es nicht gibt“, sagte der Kamp, so als würde das etwas helfen.

      Und die Psychologin wollte mir erzählen, dass ich meine Besonderheit als Ressource nutzen sollte. Ich wollte aber nicht besonders sein. Wenn schon Krebs, dann bitte eine 08/15-Leukämie, so wie Maria, die mit mir im Zimmer lag, aber doch ständig zuhause sein konnte. Irgendwas, wo die Ärzte sich auskannten. Keinen seltenen Tumor, den noch nie jemand bei einer Jugendlichen gesehen hatte. Annette war die Einzige, von der ich mich ernstgenommen fühlte. Ich verstehe nicht, warum in meinen Träumen ständig sie diejenige ist, die mir schlechte Nachrichten überbringt.

      Ruckartig setze ich mich auf und schalte das Licht an. Fahre mir mit den Händen über das Gesicht, dann über den Hinterkopf, die Schultern, den restlichen Körper. Alles noch da.

      Ich lasse meinen Blick nach unten gleiten, auf die lange Narbe an meiner Seite, unterhalb des Rippenbogens. Denke an die Niere, die dahinter nicht mehr ist. Und an meine zweite Niere, die sich angeblich vergrößert und die Aufgaben der anderen übernommen hat, so dass mich nichts von einem gesunden Menschen unterscheidet. Nichts, bis auf die Narbe. Und die Träume. Und das Wissen, dass ich besser mal keine Kinder wollen sollte.

      Nichts also.

      5

      ANSTATT mein neues Leben zu feiern, feiern wir Lunas Geburtstag bei mir zuhause. Ich habe mir gedacht, dass das eine gute Idee wäre. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Meine Eltern lernen meine Freundinnen kennen und wir bringen Lunas Geburtstag hinter uns. Am Ende des Tages könnte ich erleichtert aufatmen und hätte es hinter mich gebracht. Nicht dass Lunas Geburtstag an sich eine schlechte Sache wäre. Aber sie hat sich von ihren Eltern einen Smoothie-Mixer gewünscht. Einen von diesen teuren. Mit Ice-Crush und Turbo-Funktion, Soft-Step-Geschwindigkeitsregulierung, integriertem Messbecher, Anti-Rutsch-Füßen und einem patentierten Öffnungsmechanismus zur leichten Reinigung.

      Ich weiß das so genau, weil sie uns ausführlich davon erzählt hat. Luna will nämlich Grüne Smoothies machen. Alle wollen Grüne Smoothies machen. Alle sind plötzlich ganz wild darauf, Grünkohl, Brennesseln und Sellerie in ihre Getränke zu mischen.

      Der Plan ist, dass Luna zuerst mit ihren Eltern essen geht und sich dann mit dem Mixer unter dem Arm geklemmt auf den Weg in unsere Wohnung macht. Shirin und Julia sind schon zwei Stunden vorher bei mir. Wir wollen eine Torte backen und Geburtstagsdeko aufhängen. Dann wollen wir ihr ein Buch über Grüne Smoothies überreichen. Wilde Grüne Smoothies. Also welche, wo man sich davor durch die Büsche schlagen und Kräuter sammeln muss. Oder zum Biomarkt gehen, wenn man Geld hat.

      Meine Eltern habe ich vorgewarnt, sie freuen sich. Ich suche noch das Regal mit den Kochbüchern ab, um sicherzugehen, dass meine Mutter das Himbeerbuch und die anderen Scheißbücher auch tatsächlich weggeworfen hat. Bin beruhigt, dass ich sie nicht finde. Dann klingeln Shirin und Julia auch schon. Ich höre sie im Stiegenhaus lachen und dann stehen sie außer Atem vor der Wohnungstür.

      Julia stützt sich an Shirin ab und keucht. „Vierter Stock ohne Lift ist echt hart.“

      „Aber gutes Workout.“ Shirin deutet auf mich. „Die macht das jeden Tag“, sagt sie zu Julia. „Kein Wunder, dass die so schlank ist.“

      Ich küsse die beiden auf die Wangen und sage nichts, mache nur die Tür so weit auf wie möglich, so dass die beiden nebeneinander hereinkommen können.

      Vierter Stock ohne Lift, das fällt dir so richtig auf, wenn du im Rollstuhl sitzt, weil du so schwach bist, dass du nicht mal mehr gehen kannst. Wenn deine Eltern dich rauf- und runtertragen müssen. Deine Eltern. Mit sechzehn.

      Zum Glück war das zeitlich begrenzt, aber seither frage ich mich immer wieder, wie das Leute machen, die ständig im Rollstuhl sitzen. Die alte Frau Cermak über uns geht schon seit langem nicht mehr raus. Dabei ist die in meiner Kindheit noch durch den Park gejoggt, da kann ich mich dran erinnern. Es kann so schnell gehen, dass man plötzlich nicht mehr kann. Aber niemand will daran denken.

      Ich auch nicht, nicht mehr. Mit einer Kopfbewegung schüttle ich mir die Haare aus der Stirn und die Gedanken aus dem Kopf, und Shirin und Julia schütteln artig die Hand meiner Mutter, die sich wie vereinbart nur kurz blicken lässt.

      „Es ist peinlich, wenn du dich mit meinen Freundinnen unterhalten willst“, hab ich gesagt und ihren traurigen Blick ignoriert. Sie hört uns in der Küche hantieren, reden und lachen,


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