Nach vorn. Elisabeth Etz

Nach vorn - Elisabeth Etz


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Meine Eltern sagen zwar nichts, weil sie mich nicht drängen wollen, aber ich weiß, dass sie darauf brennen, meinen neuen Freundeskreis kennenzulernen. Julia, Luna und Shirin sind auch Freundinnen, von denen meine Eltern begeistert wären.

      „Machen wir also“, beschließt Julia. „Frag mal, wann wir kommen dürfen. Um dein neues Leben zu feiern. Mit deinen Eltern.“ Sie kichert.

      Shirin nickt und beißt in ihren Apfel. Kauend sieht sie mich an. Lange.

      „Ich find dich voll stark“, sagt sie schließlich, als sie hinuntergeschluckt hat. Julia nickt. Luna auch, natürlich.

      „Wieso bitte?“

      „Also ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte. So mit Haarausfall und so.“ Julia nimmt ein Zopfgummi aus der Hosentasche und spielt damit herum.

      Ja genau. Als ob mich jemand gefragt hat, ob ich das kann.

      „Schau mal, der Hund dort sieht doch aus wie eurer“, versuche ich abzulenken und zeige auf das Hinterteil eines Labradors, der gerade hinter einer Ecke verschwindet. Ein kläglicher Ablenkungsversuch. „Und ja, ich frag meine Eltern.“ Zweiter Ablenkungsversuch, genauso kläglich.

      „Ich hätte das nicht durchgehalten“, sagt Luna bestimmt.

      „Du musst echt ein voll tapferer Mensch sein. Find ich bewundernswert.“ Shirin.

      In meinen Ohren beginnt es zu rauschen, ich starre auf die Ecke, hinter der der Hund verschwunden ist. Ich sollte Julia den Haargummi aus der Hand nehmen und selber damit gegen mein Handgelenk schnalzen. Hilft angeblich gegen Übelkeit, weil da irgendwelche Akupressurpunkte am Handgelenk sind oder so. Da gibt’s spezielle Bänder, aber in Wahrheit tut’s ein ganz normaler Zopfgummi auch. Und in ganz wirklicher Wahrheit bringt das alles überhaupt nichts.

      Ich weiß nicht, ob die drei noch über mich und meine Stärke reden, oder ob sie schon bei anderen Themen angelangt sind, denn ich kann nicht hören, was sie sagen. Nur das Rauschen in meinen Ohren. Dieses verdammte Tapferkeitsgelaber vereint wohl Freunde und Angehörige auf der ganzen Welt.

      Es war tapfer, wie ihr mit allem umgegangen seid, sagen sie andauernd. Wie ihr der Krankheit getrotzt habt, und den Schmerzen. So als hätte es einen Plan B gegeben. Als hätten wir aussteigen können aus dem Spiel. Als wären es wir gewesen, die gesagt haben, nein, noch nicht, lass uns das mit dem Tapfersein noch ein bisschen beweisen.

      Ist es tapfer, wenn du Schmerzen hast und trotzdem lächelst? Wenn du Schmerzen hast und den Mund verzerrst, aber nicht heulst? Wenn du heulst, aber nicht stirbst? Und die, die gestorben sind, waren die einfach nicht tapfer genug?

      Das mit der Tapferkeit ist eine große Lüge.

      Ich wünsche mir Evelyn herbei. Die würde jetzt wissen, was zu tun ist. Die würde nicht nur gemeinsam mit mir die Augen verdrehen, sondern ihre halbe Brust schwingen und etwas Schlagfertiges kontern.

      Ich sehe wie Shirin, Luna und Julia ihre Münder öffnen und schließen, spüre, wie ich nicke und lächle und Mhm brumme, ohne zu hören, was sie sagen. Stelle mir vor, wie Evelyn und ich uns durch Blicke verständigen, dass es nun endgültig reicht mit all dem Tapferkeitsgelaber. Wie wir gemeinsam aufspringen, uns auf einen Besen setzen, oder auf diesen alten, spacigen Staubsauger aus der Haushaltsausstellung, und durchs geöffnete Fenster ins Freie fliegen. Wie wir all die Angehörigen mit offenen Mündern zurücklassen und draußen unsere Kreise ziehen.

      Über die Stadt. Über das Land. Und über das Meer. In welche Richtung auch immer.

      Julia rüttelt mich an der Schulter. „Alles klar mit dir?“

      „Äh, ja.“ Keine Evelyn, dafür Luna, Shirin und Julia, die mich besorgt ansehen.

      „Kann ich mal dein Haargummi haben?“, frage ich schnell, bevor sie irgendetwas sagen oder fragen können. Julia hält es mir hin, ich streife es mir über die Hand und lasse es mit den Fingern gegen mein Handgelenk schnalzen. Dann erzähle ich den dreien von Akupressurpunkten, davon, wie gut das gegen Übelkeit hilft und dass eigentlich, also eigentlich alles gar nicht so schlimm war.

      4

      „KANN ich bei Marc übernachten?“, frage ich, mehr rhetorisch als sonst was. Schließlich weiß ich, dass die Antwort nicht Nein lautet.

      „Du passt auf, ja?“, hat mein Vater nur gesagt, als ich das erste Mal bei Marc übernachten wollte, und ich habe sofort mit den Augen gerollt. Damit hatte sich die Diskussion erledigt. Vermutlich auch deshalb, weil meine Eltern wussten, dass die Wahrscheinlichkeit, mich schwanger vor ihrer Tür stehen zu haben, relativ gering war. Was ja das Hauptproblem zu sein scheint, warum Eltern ihre Kinder nicht bei Jugendlichen des anderen Geschlechts übernachten lassen wollen. Alle haben sie Angst, dass sie Alimente zahlen und Windeln wechseln müssen und die Zukunft ihrer Kinder im Arsch ist.

      So als könnte man Dinge durch Verbote verhindern.

      Trotzdem formuliere ich den Satz als Frage. Ich könnte auch Ich bin heut wieder bei Marc sagen, oder Ihr wisst ja, wo ich bin. Tue ich aber nicht. Ich frage. So als würde ich insgeheim auf ein So nicht, junges Fräulein warten. Nicht, dass mich meine Eltern jemals junges Fräulein nennen würden. Aber irgendetwas in der Art wäre schön. Irgendwie.

      Dann könnte ich Marc anrufen und ihm mit trauriger Stimme sagen, dass ich leider zuhause bleiben muss. Dass ich noch Hausaufgaben machen muss oder mit meinen Eltern für Gäste kochen oder so. Was man so macht mit Eltern eben. Was das genau sein soll, weiß ich nicht mal.

      Was machen Leute in meinem Alter mit ihren Eltern, wenn sie alleine mit ihnen sind?

      Wir machen immer das, was ich machen will. Will ich kochen, kochen wir. Will ich Essen gehen, gehen wir zum Italiener ums Eck. Ich weiß, dass wir uns das nicht ständig leisten können, deshalb tun wir das nur selten. Aber ich bestimme, wann. Meine Eltern sagen einfach ja.

      Weil sie froh sind, dass ich überhaupt noch da bin.

      Nicht, dass ich nicht bei Marc übernachten möchte. Seine Eltern haben eine tolle Wohnung, die Couch ist bequem, sie haben Pay-TV und Netflix. Und der Kühlschrank ist immer voll. Außerdem mag ich, wie Marc mich ansieht, wenn er denkt, dass es niemand merkt. Und seine Eltern sind heute Abend nicht da, also wird er mich oft so ansehen. Ich mag, wie er seinen Arm um meine Schultern legt und mir mit den Fingern durch die Haare fährt. Weil meine Schultern wieder aufgerichtet und stark sind und mir Haare aus der Kopfhaut wachsen, durch die man fahren kann. Mag es, wenn er seinen Kopf an meine Schulter lehnt, dort, wo das Schlüsselbein ist, in dem kein Port mehr steckt.

      Ich fahre also zu Marc.

      „Können wir den Herrn auch mal kennenlernen?“, fragt meine Mutter, als ich mich an der Wohnungstür verabschiede.

      Den Herrn. Ich grinse. Vielleicht nennen sie mich ja doch mal junges Fräulein.

      „Sicher.“ Ich klopfe meine Jackentaschen ab, um mich zu vergewissern, dass alles da ist. Handy, Schlüssel, Geld.

      „Vielleicht will er am Wochenende vorbeikommen? Zum Brunchen? Oder am Abend? Sag du, wie es dir am liebsten ist.“

      Sag du. Sagdusagdusagdu. Sagt doch ihr mal etwas. Bestimmt doch verdammt noch mal einfach mal ihr, was passieren soll.

      Ich bin unfair, ich weiß. Meine Eltern wollen Marc kennenlernen. Ich werde ihn einfach fragen. Soll er doch bestimmen, wann.

      Marc hat das Licht gedimmt und Orangensaft mit Malibu gemixt, in den stecken wir Strohhalme, während im Hintergrund eine alte Folge von irgendeiner amerikanischen Serie läuft.

      Eines der ersten Dinge, die ich Annette gefragt habe, nachdem klar war, dass es jetzt vorbei ist, war, ob ich mit Alkohol aufpassen muss, oder wie das jetzt ist, so mit nur einer Niere.

      „Werd bitte keine Alkoholikerin“, hat sie nur gesagt. „Und großartige Drogenexperimente würd ich dir auch nicht empfehlen. Aber ansonsten mach dir keine Sorgen.“

      „Ich


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