Nach vorn. Elisabeth Etz

Nach vorn - Elisabeth Etz


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da bin.

      Ich lasse Marc auch nicht los, als wir die Pizza vor uns liegen haben und ich kleine Stücke davon abreiße und sie mir in den Mund schiebe. Marc beißt einmal ab, den Rest überlässt er mir. Ab und zu öffnet er den Mund, um etwas zu sagen, aber jedes Mal versuche ich, ihm ein Stück Pizza hineinzuschieben, und er wehrt lachend ab.

      Als ich fertig bin, wische ich meine fettigen Finger an der Hose ab. „Ich will echt nicht darüber reden“, stelle ich klar.

      Marc atmet tief ein. „Okay. Ich will aber …“

      Da ich keine Pizza mehr habe, um ihn zu stoppen, beuge ich mich kurzerhand über ihn und küsse ihn. Es dauert ein bisschen, aber dann macht er mit.

      Einmal versucht er es noch. „Und es ist wirklich wieder alles …“

      Ich nicke heftig. Ich will jetzt nicht reden. Ich will, dass er mich hält, dass er mich küsst, dass er mich die verdammten Smoothies vergessen lässt. Ich will mich an ihm anhalten. Marc ist einer, an dem man sich anhalten kann.

      Aus den Augenwinkeln sehe ich seine Hanteln auf dem Küchentisch, daneben eine Riesenpackung Eiweißpulver. Whey Protein.

      Proteinshakes können verdammt gefährlich für die Nieren sein, wenn man keine Ahnung hat. Ich schließe die Augen. Zum Küssen braucht man die schließlich nicht.

      Wir fahren auseinander, als Marcs Mutter in die Küche kommt. Ich bedanke mich kurz und artig, dass ich am Abend noch vorbeikommen durfte, sie winkt ab und lächelt, sie hat Wichtigeres zu tun, scheint’s. Mir nur recht. Mein Kopf ist noch immer voll schleimiger Chia Samen und vorwurfsvoller Blicke, die muss ich vertreiben, schnell.

      Marc lässt sich von mir in sein Schlafzimmer und auf sein Bett ziehen. „Moment mal“, sagt er kurz, aber ich gebe ihm kein Moment mal, ich habe in den letzten zwei Jahren auch nie eines bekommen, warum sollte er.

      Ich deute auf die Packung Kondome, die Marc demonstrativ auf das Nachtkästchen gestellt hat. Marc hebt fragend die Augenbrauen. „Wirklich? Aber …“

      Noch immer will er reden. Aber es gibt nichts zu reden. Es gibt Proteinshakes und grüne Smoothies und es gibt Narben und Bestrahlungen von über 10 Gray. Die haben keine gemeinsame Sprache.

      Marc ist ein Profi, was das Kondom betrifft, bestimmt hat er inzwischen geübt. Er rollt sich auf mich, ich spüre einen scharfen Schmerz, der mich mehr interessiert als erschreckt. Ich versuche, in den Schmerz hineinzuspüren, spüre Marc, der sich auf mir bewegt, angenehm ist das nicht, aber es wird weniger unangenehm mit der Zeit, es ist Marc, Marc der nach Salz schmeckt, ich mag Salz.

      „Entschuldigung“, keucht Marc plötzlich und drückt seinen Kopf an meinen Hals. „Ich wollte nicht … ich dachte nicht, dass ich so schnell …“

      „Schhhhh“, mache ich und streichle ihm über die Haare. „Alles okay. Alles gut.“ Ich drehe mich zur Seite und betrachte das Blut auf dem Leintuch. Mein Blut.

      Mit Blut hat alles angefangen. War plötzlich in der Kloschüssel. Schmerzen hatte ich keine, aber bei sowas geht man schon mal zum Arzt. Vorsichtshalber. Und dann ging alles ganz schnell.

      Angst habe ich am Anfang auch keine gespürt. Mehr Aufregung. Und die feste Überzeugung, das zu schaffen. Mein Körper und ich, wir sollten ein gutes Team sein gegen diese neue Bedrohung. Wir waren zusammengeschweißt wie Pech und Schwefel und würden einander nicht im Stich lassen. Wir würden gemeinsam kämpfen. Dachte ich.

      Da wusste ich noch nicht, dass du wollen kannst, soviel du willst, dein Körper aber trotzdem irgendwann sagt, er will nicht mehr. Nicht mehr mitmacht. Sich verhält wie ein störrischer Esel, der einfach nicht mehr weitergehen will. Dass da nichts ist mit Team.

      Aber jetzt ist er wieder da, bei mir. Ist zurückgekehrt. Hat es mit mir sogar ins Bett von einem wie Marc geschafft. Ein kurzer Schmerz, ein bisschen Blut, und niemand muss zum Arzt deswegen.

      „Geht’s dir gut?“, fragt Marc, obwohl er mich das nicht fragen braucht, obwohl er ja sehen kann, wie ich daliege mit einem Strahlen im Gesicht, das von einem Ohr zum anderen geht.

      Marc lächelt zurück, und wir lächeln einander an, wie zwei Verliebte und ich könnte heulen vor Glück. Langsam streichle ich Marc über den Rücken, umfasse mit meinen Händen seine Oberarme, Marc spannt die Muskeln an und lächelt noch immer. Ich mag Muskeln.

      Ich mag auch Fett und Haut und Knochen und Haare. Ich hab das alles wieder. Wir sind wieder ein Team.

      „Du-hu“, murmle ich später in seine Armbeuge hinein.

      „Mhm?“

      „Meine Eltern wollen dich kennenlernen.“

      Ich habe die Augen geschlossen, aber ich spüre sein Lächeln. „Wirklich?“

      Ich nicke. „Sie laden dich am Sonntag zum Brunchen ein.“

      „Oje. Sonntag kann ich nicht. Da ist Jugendlauf und ich hab schon das Startgeld gezahlt.“

      Ich richte mich auf. „Jugend-was? Sag bloß, du läufst Marathon?“

      „Marathon kommt in einem Monat, für den trainier ich im Moment erst. Aber beim Jugendlauf mach ich schon seit Jahren mit, der ist nur zehn Kilometer.“

      „Sag mal, gibt’s etwas, was du nicht machst?“

      Marc lacht. „Ich geb mich nicht geschlagen“, sagt er, ohne zu zögern. Er zieht mich wieder zu sich.

      Marc ist also beim Jugendlauf, das gibt mir noch etwas Zeit. Andererseits … „Kann man dir da zuschauen?“, will ich wissen. „Also beim Laufen?“ Marc strahlt mich an. „Würdest du kommen?“

      „Mhm. Gerne. Vielleicht.“

      Marc streicht meine Haare nach hinten. Auch das mag ich gerne. Ich habe Haare, die man in verschiedene Richtungen streichen kann, und ich habe jemanden, der das für mich tut.

      „Was jetzt?“, fragt er. „Gerne oder vielleicht?“

      „Gerne. Stört’s dich, wenn meine Eltern mitkommen?“

      „Überhaupt nicht.“

      7

      ANFANGS musste ich einmal im Monat zum Check-Up, inzwischen nur noch alle drei Monate. Blutüberprüfung, Urinkontrolle, das ganze Drum und Dran. Anfangs war ich extrem nervös, weil ich nicht glauben konnte, dass jetzt wirklich alles vorbei sein sollte. Jeweils eine Woche vor der Nachkontrolle waren meine Alpträume am schlimmsten. Auch untertags hatte ich Panik, dass sie mich wieder dabehalten würden.

      War zum Glück aber nicht so. Annette lächelte jedes Mal, wenn sie mir meine Befunde zeigte. „Wunderbare Werte“, sagte sie. „Ich freu mich so.“

      Einige Tage vor dem Termin bin ich noch immer nervös. Aber je mehr Zeit vergeht, umso mehr mischt sich auch ein anderes Gefühl hinein, das die Oberhand gewinnt, sobald ich Annette lächeln sehe. Ich freue mich. Irgendwie gehe ich da inzwischen sogar gerne hin. Weil Annette sich so freut. Weil wir uns beide freuen.

      Eigentlich hätte ich auch regelmäßig mit der Psychologin sprechen sollen. Ist so der Plan, wenn man rauskommt. Aber die konnte ich schon auf der Station nicht leiden. Sie wollte über meinen Schulbesuch sprechen und mir helfen, Kontakte aufrechtzuerhalten. Gedächtnistraining machen und so Scheiß. Ich hatte aber keine neurologische Störung, die ein Gedächtnistraining erfordert hätte. Ich wollte auch nicht in die Schule gehen und schon gar keine Kontakte aufrechterhalten.

      Dass ich jetzt im Nachhinein regelmäßig mit ihr reden sollte, schien mir absurd, und Annette hatte vorgeschlagen, dass ich bei den Nachsorgeuntersuchungen einfach mit ihr darüber reden sollte, wie es mir so ging. Das Angebot nahm ich dankend an. Mit Annette wollte ich reden. Auch wenn sie nie genug Zeit für mich hatte.

      „Und, wie geht’s dir sonst?“, will Annette wissen, nachdem klar ist, dass mein Körper wieder drei Monate ohne Auffälligkeiten mitgemacht hat.


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