Echo eines Freundes. Ingvar Ambjørnsen

Echo eines Freundes - Ingvar Ambjørnsen


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zwei verwelkte Blätter von der Christrose abknipsen, dem Geschenk eines Neffen zu irgendeinem Anlass, an den sie sich nicht mehr erinnern kann. Na gut. Da kommt er also später. Macht doch nichts. Kaffee schon in der Thermoskanne. Die Brote in Plastik gehüllt, den Teller auf die Kellertreppe gestellt. Alles fix und fertig. Da sollte er einfach kommen, wenn es so weit wäre. Sie hatte sonst nichts vor. Wieder in die Küche. Der Kühlschrank. Hatte sie auch Sahne gekauft? Ja. Natürlich hatte sie Sahne gekauft. Dann zurück ins Wohnzimmer und ein weiterer Blick hinaus in den Garten, wo es jetzt fast ganz dunkel geworden war. Hatte sie da eine Autotür schlagen hören? Abermals in die Küche. Aber vorsichtig jetzt. Sich langsam dem Küchenfenster nähern. Sich vorbeugen, halb versteckt hinter dem Vorhang. Falscher Alarm. Die Nachbarstochter, nach Hause gebracht vom Ex, der inzwischen zu einem wirklich guten Freund geworden war. Zu ihrer Zeit hatte es das nicht gegeben. Wenn man verlobt war, heiratete man. Eine gelöste Verlobung bedeutete den Untergang der Familie. Sie schaut ein weiteres Mal auf die Uhr. Natürlich hatte das nicht der neue Mieter sein können. Den konnte sie vielleicht in einer Stunde erwarten. Vielleicht in zweien. Es waren doch so viele Unwägbarkeiten mit im Spiel.

      Vom Osloer Hauptbahnhof nehme ich ein Taxi. Das ist ganz schön großkotzig, aber ich sehe keine andere Lösung. Ich bin schon fast zwei Stunden zu spät. Das setzt mir furchtbar zu. Der Pakistani hinter dem Lenkrad starrt mich im Rückspiegel ausdruckslos an. Das macht nichts. Ausdruckslos kann ich auch. Ich denke, dass es schon ein bisschen seltsam ist, dass mich das Schicksal wieder in Richtung Grefsen führt, doch so ist es nun einmal. Gerade dieser Teil von Oslo scheint mein Siegel zu tragen. Aber egal. Das Alte ist längst begraben. Von fast allen vergessen. Ich kann mich eigentlich selbst auch nicht mehr an besonders viel erinnern. Im Grunde sehe ich nur kurze unangenehme Szenen vor mir, die ich sofort in die Korridore und Irrwege des Gemüts jage. Weg mit euch. Es ist nichts Schwerwiegendes geschehen. Dafür habe ich Zeugenaussagen genug.

      Etwas später stehe ich in einer stillen Straße und sehe, wie sich die roten Rücklichter des Taxis entfernen. Es ist jetzt ganz dunkel. Die Straße ist nur spärlich beleuchtet, das weiß ich zu schätzen. Es wirkt beruhigend so. Als ich die Straße überquere, kann ich deutlich das verbogene Rad meines Rollkoffers hören.

      Es klingt wie ein gequälter Vogel. Ein winzig kleiner Spatz, der bald sterben muss.

      2

       Annelore Frimann-Clausen

      Der Fiolvei ist eine stille Angelegenheit. Ein ausgetrockneter schwarzer Fluss zwischen weiß gestrichenen Villen in großen grünen Gärten. Nun stehe ich in der Dunkelheit auf dem Bürgersteig vor Nr. 5. Ein zweistöckiges Wohnhaus mit blauen Fensterrahmen. Weshalb das ganze Weiß? Unschuld? Vergangenheit? Wir malen weiß. Das Haus wirkt gepflegt, wie es im Fiolvei eben Sitte ist. Wir halten alles in Schuss. Das Haus liegt an einem Hang, genau, wie es mir erzählt worden ist. Der Garten ein grüner Abgrund, der zu einer hohen Fichtenhecke hin verschwindet. Und das weiß ich ja: Dort unten ruhen die letzten ungeschriebenen Kapitel meines Lebens. Hier ist es. Ich bin angekommen. Ich öffne das schmiedeeiserne Tor und betrete den Kiesweg. Ich kann sehen, dass in der Küche Licht brennt, und ich registriere, dass sie nicht hinter dem Vorhang auf der Lauer liegt. So eine ist sie also nicht. Eine gewaltige Erleichterung überkommt mich.

      Aber kaum habe ich den Finger auf den Klingelknopf gesetzt, schon wird die Tür mit einem heftigen Ruck aufgerissen. Sie muss im Gang gestanden haben, ich stelle mir vor, dass sie dort schon lange gewartet hat. Dann ist sie allerdings so eine. Eine Frau, die mäuschenstill im Dunkeln steht und wartet. Ja, ja.

      Ich sehe das Ganze von außen. Der alternde Mann, der mit dem ramponierten Koffer in der einen Hand auf der Treppe steht, während er die andere der älteren Frau so vertrauensvoll hinstreckt, wie es in unserem Teil der Welt Sitte und Brauch ist. Mann oder Frau, jung, alt, homo wie hetero, wir strecken einander die Hand hin, wir packen die Hand unseres Gegenübers, legen das eigene Fleisch auf das der anderen, bekannt oder unbekannt, das spielt keine Rolle, das Erste, was wir tun, wenn wir einander begegnen, ist, die Haut unseres Nächsten zu befühlen, und dabei die Feuchtigkeit der fremden Hand zu registrieren, die Festigkeit und die Stärke der Muskeln, um uns darauf aufbauende Vorstellungen und Theorien über die Psyche der anderen Person zu machen. Ihre Hand ist trocken und vertrauenerweckend, und in Gedanken sieht er eine alte Kiefer vor sich, die sich seit Jahrzehnten in einem Felsspalt am Meer anklammert, geformt vom Sturm und Wind und Regen und Schnee, es liegen Wille und Kraft in dieser Hand, in diesem Menschen, der sich in seinen über achtzig Jahren auf der Welt langsam aber sicher auf diesen Augenblick zugearbeitet hat, diese kosmische Begegnung mit dem neuen Mieter, dem, der den Namen trägt, den er jetzt mit einem etwas verlegenen Lächeln von sich gibt, mit einem Lächeln, von dem er hofft, sie werde, wenn sie schon nicht begeistert davon ist, doch immerhin Zutrauen dazu entwickeln, er hat dieses Lächeln nämlich geübt, es sitzt ein bisschen schief, der eine Mundwinkel ist ein klein wenig nach unten gezogen, und jetzt hört er sich selbst die Verspätung bedauern, ihr versichern, dass er keiner ist, der Verstöße gegen Abmachungen und Unpünktlichkeit auf die leichte Schulter nimmt, und er sieht, dass sie ihn aus kleinen braunen Augen mustert, sie ist wie ein Marder, denkt er nun, wie ein Marder oder ein Hermelin, zäh, ausdauernd, gar nicht so wenig neugierig, aber er hat bereits beschlossen, das Technische zu umgehen, sich an das eher Allgemeine zu halten, die Mitteilung, die per Lautsprecher durchgegeben wurde, als der Zug den Bahnhof Sande verließ, die Information, dass in Drammen Busse eingesetzt werden würden, um die Reisenden weiter nach Oslo zu befördern. Eine hervorragende Eröffnung, wie es sich herausstellen wird, ein wunderbarer Ausgangspunkt für eine Bekanntschaft, denn nun können sie beide die Norwegische Staatsbahn NSB auf scherzhafte Weise beschimpfen, da sie beide, wie überhaupt der Großteil der Bevölkerung in diesem Land, über ausgiebige Erfahrungen mit »Schienenersatzverkehr« verfügen.

      Aber möchte er einen Moment hereinkommen?

      Ach ja, aber er will nun wirklich nicht …

      Und dann tun sie das, was sie tun, denkt er, denn sie sind Menschen auf der Erde, und natürlich stört er sie nicht, sie wollte ja ohnehin eine Tasse Kaffee trinken, ja, es würde mich nicht überraschen, denkt er weiter, während er vor seinem inneren Auge gleichzeitig die Weißbrotschnitten vor sich sieht, wie sie dort unter der Plastikfolie gewissermaßen leuchten, das Rührei mit dem orangeroten Räucherlachs, die Scheiben mit Fischpudding, Mayonnaise und einer winzig kleinen Krabbe sowie einem Petersiliepuschel, die Leberwurst, die mit einer von zwei Möglichkeiten versehen ist, es gibt nämlich zwei Schulen, wenn es um Leberwurstbrote geht, die, auf die er und seine Mutter immer geschworen haben, zwei Scheiben Gewürzgurken, und die etwas fremdere, aber gar nicht schlechte, eingelegte Rote Bete, auch diese in dünnen Scheiben, und dann die drei Schnitten mit weißem Käse und einer Scheibe roter Paprika, die werden noch immer auf dem Teller liegen, wenn beide satt sind, er denkt, dass sie ihn am Ende auffordern wird, diese Brote mitzunehmen, und er kann sich schon zögernd mit Ja antworten hören, während er abermals sein jungenhaftes Lächeln hervorzaubert. Und während sie so freundlich und zufrieden zurücklächelt, denn so ist die Natur: Frauen wollen, dass Männer so viel essen wie möglich. Es fängt schon mit der Brustwarze an, die sich in unseren Mund presst, denkt er zufrieden und stellt den Koffer vorsichtig in dem engen Gang ab; sie steht sofort mit einem Kleiderbügel parat, zusammen schälen sie ihn aus dem Mantel, er ist sich bewusst, dass das hier ihre erste gemeinsame Handlung ist, sie schälen ihn aus dem Mantel, den die Frau sofort wegzaubert, in einen zu diesem Zweck geeigneten Schrank hängt, er sieht für einen Moment ihren Mantel, dazu einen Regenmantel und eine moderne Allwetterjacke, und daran wird er bei seinem gesamten ersten Aufenthalt in Annelore Frimann-Clausens Zuhause nun regelmäßig denken: Sein eigener Mantel, der in der Dunkelheit bei ihren mehr oder weniger femininen Oberbekleidungsstücken hängt. Die Schuhe braucht er nun wirklich nicht auszuziehen, aber tut es trotzdem, nicht nur, um höflich zu sein, sondern auch, weil er sich am selben Morgen gründlich die Füße gewaschen hat, so gründlich, dass sie noch immer ein bisschen wehtun, außerdem hat er ein Paar nagelneuer Socken angelegt, eigenhändig vor einer guten Woche bei Dressman erstanden.

      Ein Zuhause. Wann war ich zuletzt in einem Zuhause? Vor einer ganzen Weile. Und dennoch: Wie vertraut das alles ist! Von dem engen Gang führt eine Tür ins Wohnzimmer, wo sich die Möbel aus den sechziger


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