Wie man Dinge repariert. Martin Peichl
Wenn man genau hinschaut, sieht man das Packeis in seinen Augen.
BEZIEHUNGSSTATUS:
Die Frage nach dem Beziehungsstatus ist immer auch eine Schätzfrage.
VERSUCHSANORDNUNG
Objekt 1: Du, Mitte zwanzig, sommergesprosst, wolltest als Kind Heißluftballonfahrerin werden, mit dem Heißluftballon einmal um die Welt oder zumindest einmal raus aus dem Lavanttal, aber als du dreizehn warst, hat man dir die Sandbeutel aufgeschlitzt. Seitdem rieselst du. Seitdem hebst du nur mehr selten ab und fliegst tief, ganz tief, unter jedem Radar.
Objekt 2: Er, Ende dreißig, schütteres Haar, schüttere Gedanken, vielleicht auch schüttere Absichten. Wollte als Kind gar nichts werden. Berufswunsch: Kind bleiben. Nur ganz kurz wollte er nach Hollywood und Schauspieler in Sexfilmen werden, aber dann haben ihm seine Freunde erzählt, dass die Brüste der weiblichen Darstellerinnen aus Plastik sind und bloße Attrappen. Also doch nicht Hollywood, sondern lieber Mietwohnung in Klagenfurt.
Du kennst ihn schon seit über zehn Jahren, kennst ihn noch mit vollerem Haar, kannst dich an den einen Tag erinnern, als er seinen Bart abrasiert hat, dass er dir nicht gefallen hat ohne Bart, du weißt, wie er riecht am Morgen, wie er riecht am späten Nachmittag. Weißt, wie er ausschaut, wenn er zu wenig geschlafen oder am Vortag zu viel Bier getrunken hat. Jetzt willst du wissen, wie er am Abend riecht und spät in der Nacht, wenn keine Busse mehr fahren. Und einmal willst du der Grund sein, warum er aufbleibt die ganze Nacht.
Er kennt dich, kennt deine Handschrift, hat jahrelang deine Buchstaben entziffert, dein Geschriebenes decodiert, hat seine Schrift über deine Schrift gelegt, ein Wechselspiel, ein Dialog – ein Palimpsest aus Nicht- und Fast-Gesagtem. Er weiß, dass du an heißen Sommertagen zu wenig anhast, er weiß, in welche Richtung du deine Locken um den Finger wickelst, wenn du nachdenkst. Und er weiß, dass dein Vater zu viel trinkt, dass dein Vater nicht weiß, wann es genug ist, auch wenn er nicht getrunken hat.
An ein Schicksal glaubst du nicht, also hilfst du nach. Schicksal ist Zufall, dem wir eine Bedeutung geben, hat er einmal gesagt. Dieser Satz ist hängen geblieben. Wie so viele andere seiner Sätze hängen geblieben sind zwischen deinen Zähnen. Seit du ihn nicht mehr gesehen hast, schmeckt alles, was die anderen sagen, nach Amalgam. Die Tage ohne ihn wie Plomben in deinem Kalender. Beim Strandurlaub in Italien füllst du eine leere Wasserflasche bis zum Rand mit Sand und verstaust sie in deinem Rucksack.
Er weiß zuerst nicht, ob er antworten soll. So etwas passiert doch nur in Büchern, denkt er, so etwas passiert doch nur in Filmen und in Serien. Und am Ende ist der Protagonist tot oder zumindest seine Existenz zerstört. Also antwortet er. Er schreibt: Sehr gern. Was machst du nächsten Samstag? Ich kenne da eine Bar ganz bei mir in der Nähe. Und dann schickt er noch die Adresse und eine Uhrzeit.
Jetzt hast du, was du wolltest: Koordinaten. Du hoffst, dass er immer noch raucht, hoffst, dass er nicht merken wird, dass dir Bier noch immer nicht schmeckt, hoffst, dass deine Sommersprossen nicht zu sehr leuchten im Licht der Bar, dass dein Kleid kurz genug ist und dass dein Träger in den richtigen Momenten rutscht, aber nicht zu weit. Es ist eine Inszenierung, die Art, wie du ihn begrüßt, ist eine Inszenierung, deine Lippen auf seinen Wangen, deine Lippen streifen seine Mundwinkel. Du hast gut aufgepasst, du hast viel von ihm gelernt: Du weißt, wie wichtig die Exposition und was ein erregender Moment ist. Ihr bestellt das erste Bier. Die Handlung steigt, und in dir drinnen rieselt der Sand jetzt langsamer.
Er weiß, welche Wirkung seine Stimme hat, wenn er erzählt von den Jahren, wenn er erzählt von früher, wenn er das Wort WIR verwendet, weiß, welche Wirkung seine flüchtigen Berührungen haben, wenn er dich am Oberarm berührt oder am Rücken. Jetzt glaubt er zu wissen, wie deine Haut funktioniert, jetzt glaubt er zu wissen, warum du da bist. Er zählt die Sommersprossen auf deiner rechten Wange anstelle der Jahre zwischen euch.
Es wird spät, und jetzt weißt du, wie er riecht, wenn die Busse nicht mehr fahren. Im Stiegenhaus fummelst du mit seinem Gewissen. Er holt eine Flasche Wein aus seiner Wohnung, und ihr klettert auf das Dach. Klagenfurt ist nicht Hollywood, sagt er und macht deinen BH auf. Du schmeißt die leere Weinflasche auf die Straße. Es ist zu dunkel, um den Sand zu sehen, der von deinen Lippen abhebt. Die Masken verrutscht, die Kostüme zu groß oder zu klein. Zwei Objekte ohne Fall.
BEZIEHUNGSSTATUS:
Als ich dir erklärt habe, dass Sex eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung sei, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet werde, ihr Ziel in sich selber habe und begleitet werde von dem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des Andersseins als das gewöhnliche Leben, als ich dir damals erklärt habe, was Sex ist für mich, habe ich in Wahrheit Johan Huizingas Homo Ludens zitiert und das Wort »Spiel« mit »Sex« ersetzt.
DIE WAHRHEIT, TEIL 2
Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe, kommst du mir ein paar Zentimeter größer vor.
Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe, kommen mir deine Kleider ein paar Millimeter kürzer vor.
Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe.
Und ich weiß, du färbst dir jetzt deine Haare, ich weiß, du hast ein paar Kilo abgenommen – und beides macht mich traurig, und nie weiß ich, warum.
Und ich weiß, du erzählst deinen Freunden, wir hätten uns auf einer Beerdigung kennengelernt, dass ich süchtig war nach deiner Haut, aber nicht die Finger lassen konnte von den anderen, mich ständig einwickeln musste in neue Erzählanfänge, dass ich dich am Flughafen stehen gelassen habe, dass ich mit zwei Flugtickets an Bord gegangen bin und dich zurückgelassen habe mit einem fünfundzwanzigseitigen Abschiedsbrief, geschrieben in Schriftgröße 12 und mit 1,5 Zeilenabstand, dass niemand deinen Namen aufgerufen hat am Gate und dass du die S-Bahn zurück nach Wien genommen hast, dein Koffer ganz schwer, aber dein Herz überraschend leicht, so leicht, als wäre es ein Ballontier.
Und ich weiß, du erzählst deinen Freunden, dass du gut ohne mich kannst, dass du nicht mehr jeden Tag auf mein Facebook-Profil gehst oder schaust, was ich auf Twitter schreibe, dass du aufgehört hast, dich mit meinen anderen Ex-Freundinnen auf Kaffee und weiße Spritzer zu treffen, dass du einen Urlaub gebucht hast ans Meer, dass du gerne alleine reist, dass du vielleicht noch manchmal an mich denkst, aber erst nach dem dritten oder vierten Glas, also trinkst du weniger und machst mehr Sport, gehst am liebsten wandern, dann schaust du stundenlang nicht auf dein Handy, dann bist du ganz bei dir.
Und ich verstehe, dass du ihnen nicht erzählst, wie du in meinem Fenster gestanden bist und springen wolltest, wie du mich angeschrien hast, dass du dich jetzt umbringst wegen mir, dass ich dich weggerissen habe vom Fenster und du eingeschlagen hast auf mich, bis auch ich eingeschlagen habe auf dich, als würden wir hageln, ein Korn nach dem anderen, dass wir irgendwann erschöpft aufgehört haben, verschwitzt aufeinandergelegen sind, dass wir dann Sex gehabt haben und du mir unter der Dusche gesagt hast, du willst ein Kind von mir.
Und ich verstehe, dass du ihnen nicht erzählst, dass jeder Schnaps, den du trinkst, auf mich ist, dass du im Sommer das Grab meines Vaters besucht hast, dass du das Haus gesucht hast, in dem ich aufgewachsen bin, und den Fußballplatz, auf dem ich meine ersten Tore geschossen habe, dass du dich zur Sandkiste am Kinderspielplatz gesetzt hast und ein paar Minuten lang die zerbrochenen Plastikschaufeln angeschaut hast und die löchrigen Plastikkübel, und dass du mir fast ein Foto geschickt hättest von der Schaukel, die sich ganz leicht bewegt hat im aufkommenden Wind.
Und ich verstehe, dass du ihnen nicht erzählst, dass du manchmal noch die Tür aufmachst, wenn ich mitten in der Nacht anläute, dass du aufgehört hast zu zählen, wie oft wir schon gesagt haben: DAS IST DAS LETZTE MAL.
Die Wahrheit ist: Wenn es regnet, höre ich die Kilometer zwischen uns, wie sie gegen meine Fensterscheibe trommeln. Dann liege ich in meinem Bett und berechne: die Neigung des Regens.
Die