Tru & Nelle. G. Neri

Tru & Nelle - G. Neri


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noch lauter, als sie begriffen, in welcher Zwickmühle sie steckte. Nelle biss die Zähne zusammen und schnappte sich das Kleid. Das war besser als jede weitere Sekunde in den Sachen, die sie jetzt gerade trug.

      «Du meine Güte! Nelle in einem Kleid? Wie weit ist es mit der Welt schon gekommen?», scherzte Bär.

      Nachdem Nelle in die Abstellkammer auf dem Flur gelaufen war und die Tür hinter sich zugeknallt hatte, hörte sie sie noch schallender lachen. Nelle schämte sich so und war wütend auf sich selbst. Vielleicht sollte sie einfach für immer hier drin bleiben. Mal sehen, wie ihnen das gefallen würde!

      Dann zog sie ihre Latzhose aus und warf sie auf den Boden. Sie starrte das Kleid an, das sie in den Händen hielt. Zuletzt hatte sie eines getragen … zum Geburtstag ihrer Mutter vor zwei Jahren. Sie erinnerte sich noch, das Kleid dermaßen gehasst zu haben, dass sie es sich hinterher absichtlich vom Leib gerissen hatte. So, dass man es nicht mehr flicken konnte.

      Jetzt ließ sie sich auf einen alten Koffer neben den Golfschlägern ihres Vaters sinken und hielt sich das Kleid vors Gesicht. Sie würde nicht weinen. Stattdessen holte sie tief Luft … und konnte plötzlich den Duft ihrer Mutter an dem Stoff riechen. Der brachte noch mehr Erinnerungen an den Geburtstag damals zurück. Wie Nelle versucht hatte, ihr an jenem Morgen bei einem Kreuzworträtsel zu helfen. Oder wie ihre recht mollige Mutter anmutig durchs Wohnzimmer getanzt war, während die Sonne durchs Erkerfenster hereinfiel. Und wie sie zusammen aus ihren Lieblings-Blumenkästen auf der Veranda Winterschneeball und lavendelfarbene Rosen für ihre Party gepflückt hatten. Am deutlichsten aber erinnerte sie sich daran, wie wunderschön ihre Mutter Klavier gespielt und wie Nelle während der Party vor allen Gästen Tea for Two gesungen hatte, während die Mutter sie am Klavier begleitete.

      Es war das einzige Mal gewesen, dass sie je gemeinsam ein Lied vorgeführt hatten.

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      8.

       Die kalte, harte Wahrheit

      Die Hintertür zu Jennys Haus stand weit offen. Truman rannte hinein und blieb dann abrupt stehen. In der Küche war niemand. Er lauschte, aber alles, was er hören konnte, war sein eigener Herzschlag. Doch dann vernahm er Stimmen. Sie kamen aus dem vorderen Wohnzimmer.

      Langsam bewegte er sich darauf zu. Im Haus war es ansonsten still, alle Schlafzimmertüren waren geschlossen. Die Frauen redeten in gedämpftem Ton.

      Eine der Stimmen gehörte Sook. Die andere seiner Mutter.

      Allein beim Klang ihrer Stimme musste Truman unweigerlich lächeln. Er überlegte, ob er sich vielleicht hinter sie schleichen sollte, um die Hände auf ihre Augen zu legen – und dann würde sie vor Freude aufkreischen und ihn so fest umarmen, dass er fast keine Luft mehr bekam.

      Doch da hörte er, worüber sie sprachen. «Er hat dich so vermisst, Lillie Mae», flüsterte Sook. «Manchmal finde ich ihn weinend im Bett und halte ihn einfach eine gute Stunde im Arm, bis er einschläft. Er braucht seine Mama. Er braucht dich.»

      «Ach, ich weiß nicht, Sook», sagte seine Mutter. «Ich möchte nicht schäbig klingen, aber … aber ich kann den Anblick meines Sohnes schlicht nicht ertragen – es kommt mir vor, als wäre er nicht einmal mein Kind.»

      Für einen Moment herrschte Schweigen.

      «Wie kannst du so etwas Schreckliches sagen – und das ist Unsinn, Lillie Mae! Ich habe ja selbst gesehen, wie du ihn geboren hast!», erklärte Sook.

      «Das meine ich nicht. Ich weiß, es ist abscheulich von mir, aber der Junge ist so sonderbar. Er benimmt sich nicht, wie es ein normaler Junge tun sollte. Er ist ein Hochstapler wie sein Vater – er lebt in einer Fantasiewelt und zieht mich da mit hinein.»

      «Das kann doch nicht dein Ernst sein, Lillie Mae. Er ist noch ein Kind.»

      «Bei der Vorstellung, mit ihm und Archie sesshaft zu werden, fühle ich mich wie ein eingesperrtes Tier – das wird nie funktionieren!» Sie hielt kurz inne. «Darum habe ich entschieden: Truman wird von nun an hier leben.»

      «Oh, Lillie Mae, Jenny wird das nicht zulassen. Ich glaube nicht, dass du auch nur ahnst, was das bei dem Jungen anrichten wird. Er wird durchdrehen.»

      «Tja, ich habe schließlich nie ein Kind gewollt! Schau, was er aus meiner Figur gemacht hat. Ich bin erst sechsundzwanzig, aber schon derart ruiniert, dass ich mich Jahre älter fühle. Die Zeit vergeht wie im Flug und das Letzte, was ich brauche, ist, zu Hause zu hocken mit diesem altklugen kleinen –»

      Sie blickte auf und sah Truman in der Tür zur Küche stehen. Er kämpfte mit den Tränen.

      Seufzend verzog sie ihre rubinrot geschminkten Lippen zu einem gekünstelten Lächeln. «Truman. Du wirst hier glücklicher sein, Liebling. Vertrau mir. Ich mache mich einfach nicht gut als Mutter.»

      Er wollte das nicht hören. Darum rannte er aus dem Haus, die Verandastufen hinunter und floh in die Arme seines Vaters.

      «Hoppla, hoppla, kleines Kerlchen. Was ist denn los?» Arch spürte Trumans Tränen an seinem Hals. Als er aufblickte und sah, dass Lillie Mae an der Haustür stand, wurde er wütend. «Ist das dein Ernst? Konntest du nicht warten, bis ich da bin, bevor du es ihm gesagt hast?»

      Sie zuckte mit den Achseln und zündete sich eine Zigarette an. «Er hat gelauscht. Was kann ich dafür?»

      Arch trug Truman an die Seite des Hauses. «Hey, Kumpel, tut mir leid. Das hättest du nicht hören sollen.»

      «Ich versteh das nicht», sagte Truman mit fest zugekniffenen Augen.

      Arch seufzte. «Ich kann nur sagen, an jedem Horizont gibt es einen Silberstreifen, also … Ich werde dir jetzt deinen zeigen.»

      Truman öffnete ein Auge. «Du gehst nicht fort? Du verlässt mich nicht?»

      Arch verzog das Gesicht und kniete sich hin, damit Truman vor ihm stehen konnte. «Schau, mein Sohn. Ich weiß, wir haben gesagt, dass dies hier nur vorübergehend sein wird, wie ein Sommerurlaub. Aber die Wahrheit ist … deine Mutter und ich … wir erwarten beide unterschiedliche Dinge vom Leben …»

      «Und was ist mit mir?», wimmerte Truman. «Mich wollt ihr nicht?»

      Arch konnte ihm nicht in die Augen sehen. «Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit ich zurückkommen und dich holen kann. Allerdings brauche ich Zeit. Ich habe ein paar neue Ideen, von denen ich glaube, dass sie uns ein Vermögen einbringen werden, doch ich kann dich jetzt nicht mitnehmen.»

      «Aber wir haben doch schon auf den Dampfschiffen zusammen gearbeitet …»

      «Das war damals. Jetzt gehörst du in die Schule, wo du heranwachsen und klüger werden kannst als dein alter Herr. Ich weiß, du willst das nicht hören … aber ich hoffe, das hier hilft dir, damit du vorerst ein wenig glücklicher bist.»

      Er drehte Truman um, sodass er einen ziemlich großen Gegenstand sah, der mit einer Plane abgedeckt war.

      «Ich weiß ja, wie gebannt du Lindbergh und seinen Flug über den Atlantik verfolgt hast. Wenn du erwachsen bist, wartet die Welt bestimmt auf einen neuen Lucky Lindy und vielleicht wirst du sogar berühmt …»

      Langsam zog Arch die Plane zurück und enthüllte ein hellgrünes, dreimotoriges Miniatur-Flugzeug mit einem roten Propeller, ein sogenanntes Ford Trimotor-Modell. Das einem überdimensionalen Dreirad mit Flügeln ähnelnde Gefährt war groß genug, sodass Truman darin Platz fand. Die Art und Weise, wie der Propeller in der Sonne strahlte, machte es zum Schönsten, was Truman je gesehen hatte.

      «Ist es das aus dem Geschenkeladen?», fragte Truman.

      Arch griff in seine Jackentasche und holte eine Fliegerkappe und Pilotenbrille hervor. «Klar, es ist genau das Modell, das du schon wolltest, als du noch ganz klein warst. Das ist von mir für dich. Darum wird dich jedes Kind in der Nachbarschaft


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