Big Sur. Jens Rosteck

Big Sur - Jens Rosteck


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in der Öffentlichkeit wiederholt detailliert über die bedenklichen Aspekte des Hochrüstens und die fatalen Nebenwirkungen von Atomtests ausließ, die Wertschätzung und Hochachtung zahlloser kritischer Mitbürger und Kollegen im In- und Ausland ein, führte allerdings auch dazu, dass man ihm, vor allem von staatlicher Seite, zunehmend mit Misstrauen begegnete.

      Dieses lautstarke und nicht nachlassende Engagement, stets diplomatisch, wenngleich mit Entschiedenheit vorgebracht, sowie Paulings Mitgliedschaft in der sowjetrussischen Akademie der Wissenschaften waren den selbst ernannten Sittenwächtern, politischen Zensoren und Denunzianten der McCarthy-Ära, die hinter jeder pazifistischen Meinungsäußerung kommunistische Umtriebe und antiamerikanische Verschwörungen witterten, ein Dorn im Auge. So kam es zu der grotesken Situation, dass der Mahner, der nach Kriegsende bereits die Medal for Merit erhalten hatte, mithin die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten, Anfang der Fünfziger und somit auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges mit einem Ausreiseverbot belegt wurde, als er im westlichen Ausland an einem wissenschaftlichen Kongress teilnehmen wollte. Seinem internationalen Renommee tat diese absurde Demütigung, die ihn zeitweise ins innere Exil trieb, keinen Abbruch; die Rehabilitierung folgte auf dem Fuße. Außerhalb der USA war die Wertschätzung für seine Leistungen schier grenzenlos: 1954 erkannte man ihm den Nobelpreis für Chemie zu, ein Jahrzehnt danach den Gandhi-, den Lenin-Friedenspreis der UdSSR und den Friedensnobelpreis für sein Vorhaben und seinen Willen, fortan seine ganze Kraft dem Weltfrieden zu widmen. Diese zweimalige Ehrung durch das Nobelpreiskomitee in unterschiedlichen Disziplinen war zuvor und ist seitdem außer Marie Curie noch keiner anderen Einzelperson zuteilgeworden.

      1960 lag dieser zweite Nobelpreis noch in der Zukunft, ebenso wie sein Einsatz gegen die zunächst unheilvolle, dann verheerende amerikanische Beteiligung am Vietnamkrieg oder auch der letzte, weit weniger überzeugende und von seltsamen Verlautbarungen und Publikationen beherrschte Schaffensabschnitt Paulings, in dem er mit wirren und nicht immer seriösen Theorien zur Lebensverbesserung und -verlängerung durch exzessiven Vitaminkonsum aufrief. Damals galt er noch nicht als Spinner, Wunderdoktor oder Guru, sondern ließ sich mit Vorliebe als liebenswürdiger Herr in den mittleren Jahren ablichten, spitzbübisch in die Kamera lächelnd, stets mit einer Baskenmütze angetan. Zu diesem Image als keineswegs abgehobener, sondern bodenständiger und naturverbundener Zeitgenosse, weise und schalkhaft zugleich, passte der Entschluss Linus’, was seinen Lebensmittelpunkt anging: dem aufreibenden universitären Umfeld in den Großstädten schon früh den Rücken zu kehren, den Medienrummel zu ignorieren und sich, wann immer es nur möglich war, nach Big Sur zurückzuziehen. Ava, die er schon mit Anfang zwanzig geheiratet hatte und die im Laufe der Jahre ihrerseits zu einer leidenschaftlichen Verfechterin von Frauen-, Friedens- und Bürgerrechten wurde, sowie ihre gemeinsamen vier Kinder, allesamt brillante Nachwuchswissenschaftler, folgten ihm gern in die selbst gewählte Einsamkeit und fühlten sich rasch auf der spartanisch eingerichteten Deer Flat Ranch und in deren näheren Umgebung wohl und heimisch.

      An jenem Januarmorgen, einem Samstag, wäre Pauling die triviale Entscheidung für einen Spaziergang beinahe zum Verhängnis geworden. Ava hatte er mitgeteilt, er wolle den Zustand einiger Zäune überprüfen, die unweit vom Meer ihr Grundstück eingrenzten, und werde zum Mittagessen wieder zurück sein, zu dem ein Gast erwartet wurde. Nach Abschluss der Zaunkontrolle aber wandte sich Linus, der nur leichte Kleidung trug, einen Spazierstock mitführte und natürlich keine Wanderausrüstung dabeihatte, einem kleineren Berggipfel oberhalb des Strandes zu, in dessen Nähe er schon immer die Mündung des Salmon Creek vermutet hatte, wandte sich ohne erkennbares Motiv aber vom Meer ab und kam so – suchend, gedankenverloren – immer weiter von seinem ursprünglichen Weg ab. Neugier und Abenteuergeist trieben ihn an, als wäre er auf einer Exkursion.

      Ohne auf Zeit und Orientierungspunkte zu achten, folgte er Wildfährten, kletterte über Felsen und kam auf einmal vor einer steil aufragenden steinernen Wand zum Stehen. Direkt über ihr musste der neue Weg irgendwo weitergehen, aber das Hindernis ließ sich weder frontal noch seitlich überwinden. Also bewegte er sich zentimeterweise an einer anderen Stelle auf zusehends unsicherem Gelände vorwärts, rutschte über Geröllbrocken, glitt aus, richtete sich auf, machte, als er einsehen musste, dass er auch hier nicht weiterkam, wieder kehrt und blickte, von einem ins Freie ragenden, ungeschützten Felsvorsprung aus, den er Minuten zuvor mühelos überquert hatte, zum ersten Mal wieder zurück – in die Richtung, aus der er gekommen war. Eine fatale Entscheidung: Unter ihm gähnte ein Abgrund, zwanzig Meter vor ihm in der Tiefe peitschten die Wellen gegen die Klippen, links und rechts von ihm führten alle Abzweigungen in die Irre, und weiter nach oben mochte er sich auch nicht wagen.

      Aus unerklärlichem Grund fühlte er sich außerstande, auf dem bewährten Hinweg – der nun auch viel zu riskant auf ihn wirkte – wieder hinabzusteigen. Er saß fest. Plötzliche Todesangst überkam ihn. Und er beschloss, nachdem er sich, um Hilfe bittend, die Seele aus dem Leib geschrien hatte, einstweilen einfach tatenlos abzuwarten. Er hoffte, die Küste mit den Augen absuchend, auf das Erscheinen seiner Frau, die ihn vom Meer aus doch einfach entdecken musste, sobald sie sich auf die Suche nach ihm machte. Oder auf einen Geistesblitz, der nicht kam. Für unbestimmte Zeit, so viel stand fest, wurde der Felsvorsprung, weder besonders breit noch lang, wohl oder übel zu seinem neuen Zuhause oder Gefängnis. Sei es, weil ihm seine übliche Zuversicht abhandengekommen war, sei es, weil er das Vertrauen in Trittsicherheit und Schwindelfreiheit verloren hatte: Pauling ließ die Stunden im Sitzen verstreichen und hoffte, zwischen Grübeln und Panikattacken schwankend, inständig auf einen Wink des Schicksals. Erst kam ihm das Ganze fast lachhaft vor, dann erkannte er den Ernst seiner Lage. Mit Ungeduld war der verfahrenen Situation nicht beizukommen. Vernünftige Optionen, sich zu befreien, gab es keine. Die Essenszeit war längst vorüber, der Nachmittag zog sich in die Länge. Schatten senkten sich über ihn herab. Er fröstelte. Seine neuerlichen Rufe verhallten ungehört, und dann brach die Dämmerung herein.

      Ihm wurde klar, dass er die Nacht hier würde verbringen müssen. Ohne Schutz vor Kälte und selbstverständlich ohne Verpflegung. In einer Vertiefung etwa auf der Mitte seines Felsens richtete er sich ein halbwegs bequemes Lager ein, brach Äste von den ihn umgebenden Büschen ab und formte sie zu einer Art Sitzkissen, schaufelte Erde unter sich und deckte sich, nachdem er die Beine ausgestreckt hatte, mit laubbehangenen Zweigen zu, so gut es eben ging. Inzwischen vermochte er nicht mehr zu entscheiden, wovor er sich am meisten fürchtete – hier tagelang zum Ausharren gezwungen zu sein, bis er schließlich verhungerte oder sich aus Verzweiflung in den Tod stürzte. Oder, von Müdigkeit übermannt, einzuschlafen, die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren und in die Tiefe zu gleiten. Daher entschloss er sich zu einer ganzen Reihe von Denkübungen: Er rekapitulierte die Gleichungen und Resultate seiner einstigen Forschung in allen Einzelheiten und sagte sie sich mit lauter Stimme vor; er ging, Reihe für Reihe, das Periodensystem der Elemente durch und versuchte sich dabei an jedes Detail zu erinnern; er zeichnete mit seinem Stock die verschiedenen Sternbilder über sich nach, denen, so dankbare wie zum Widerspruch unfähige, stumme Zuhörer, er kleine Vorträge hielt. Er sorgte dafür, dass ihm weder die Beine noch die Arme einschliefen. Zwischendurch zog Nebel auf, bewölkte sich der Nachthimmel. Kurz vor Morgengrauen hielt er sich weiterhin wach und zählte in allen ihm bekannten Sprachen mit eiserner Disziplin vor sich hin. Schließlich wurde es allmählich hell, und ein neuer Tag mit ungewissem Ausgang lag vor ihm.

      In der Zwischenzeit hatte rund um die Deer Flat Ranch eine fieberhafte Suche nach Linus eingesetzt. Von seinem Ausbleiben beunruhigt und von einer kurzen Wanderung den Strand entlang ohne ein Lebenszeichen von ihm zurückkehrend, hatte Ava Alarm geschlagen und nacheinander einen Ranger, ihren Schwiegersohn und auch einen Sheriff mobilisiert, die, jeder für sich, auf die Suche gingen, einmal sogar in Reichweite Paulings gerieten und erst am späten Abend ihre Aktionen unverrichteter Dinge abbrechen mussten. Einer der Männer machte sich sogar erneut während der Nachtstunden auf, lief freilich abermals in die verkehrte Richtung, da er allein auf Avas Mutmaßungen angewiesen war. Am nächsten Morgen wurde die Suche, an der sich nun weitere Menschen beteiligten, ausgeweitet, und genau einen Tag nachdem der berühmte Forscher verschwunden war, gelang gegen zehn Uhr früh überraschend die Kontaktaufnahme zwischen einem der Retter und dem wild gestikulierenden Eingeschlossenen. Der Helfer informierte den Sheriff, der seinerseits Ava die beruhigende Nachricht zukommen ließ, dass ihr Ehemann lebend aufgefunden worden sei, und es wurden Stricke und Seile geordert. Doch noch bevor sie eintrafen,


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