Big Sur. Jens Rosteck

Big Sur - Jens Rosteck


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eine Gemütsverfassung. So etwas wie ein Codewort für eine ungebrochene, stets erneuerbare Faszination. Eine Chiffre für Wildnis. Angesichts der Konfrontation mit einem unbezähmbaren »Nichts«. Pure Faszination? Oder vielmehr ein kaum durchschaubares Spiel aus Annäherung, Scheu und Berührungsangst, in dem man weniger Akteur als Getriebener ist – einhergehend mit einem mal beängstigenden, mal euphorisierenden, mal suchtverstärkenden Schwindelgefühl, das jeder Big-Sur-Novize durchmachen muss, wenn er an dieser Schwelle zum Pazifik angelangt ist und von der Steilküste in Richtung Hawaii und Asien blickt. Ein Küstenabschnitt, der viele Kilometer nördlich von Los Angeles verläuft und den seit jeher eine geradezu mythische Aura umgibt. Von Osten anreisend, macht sich so mancher Auswanderer auf, bewegt sich von der Atlantikküste, wo die Luft »mit ihrem Sole-Geschmack und dem salzigen Duft« (Adams) schon die noch in weiter Ferne liegende Begegnung mit dem Gegenüber, ganz im Westen des Kontinentes, »anzukündigen scheint«, auf Big Sur zu. Nach der Überquerung Nordamerikas zu guter Letzt an die schroffen kalifornischen Uferstreifen und an den »westlichen, jäh abfallenden Festlandsockel zu gelangen« ist nämlich noch heutzutage ein erschütterndes, im Wortsinne sensationelles Erlebnis.

      Big Sur – eine von San Francisco und L.A. so ziemlich gleich weit entrückte Gegend, die aus nichts als zerfurchter Küstenlinie zu bestehen scheint. Von den hoch aufragenden Bergen und Gipfeln der imposanten Santa Lucia Mountains und vom dominierenden Cone Peak vollständig vom Rest des Landes abgetrennt. Von den Luxusvillen der Superreichen im nördlich gelegenen Carmel und im südlich gelegenen Santa Barbara unbeeindruckt und nicht aus der Ruhe zu bringen.

      Mit Big Sur ist, im engeren Sinne, ein je nach Definition fünfundsiebzig bis neunzig Meilen langer Abschnitt zwischen Santa Cruz und Monterey im Norden und Morro Bay und San Luis Obispo im Süden benannt.

      Verwaltungstechnisch ist Big Sur keine präzise »Einheit«. Und obwohl es einen Hauptort gleichen Namens gibt, der eher einer Ansammlung weniger Gebäude gleicht und als Drehscheibe für allgemeine Erledigungen und Einkäufe für den täglichen Bedarf fungiert, lässt er sich nicht als Dorf oder gar Stadt bezeichnen, sondern stellt bestenfalls eine praktische Begegnungsstätte dar. Geografisch und topografisch lässt sich Big Sur als ein jahrtausendelang völlig unzugänglicher und somit auch unerschlossener Küstenstreifen im mittleren Kalifornien definieren. Parallel zur ehemaligen königlichen Straße »El Camino Real«, die, als Ergänzung und Kontrapunkt des Meeressaums, weiter innen im Land, in einiger Entfernung zur Küste sowie teilweise den Tälern und mäandernden Kurven des Salinas River folgend, verlief. Historisch betrachtet spanisch-mexikanischen Ursprungs und dennoch ein ganz wesentlicher Bestandteil des »weißen« amerikanischen Traums.

      Noch vor wenigen Dekaden »gab es« Big Sur, einstmals ein marginaler Bestandteil des mexikanisch-neuspanischen Territoriums »Alta California«, also gar nicht – mangels Straßen, Pfaden, geeigneter Querverbindungen, mangels Häfen oder geschützter Buchten. Eine auf den ersten Blick abweisende, für Menschen vollkommen unattraktive Region ohne Infrastruktur. Über Jahrhunderte ist wohl kaum jemand hierhergelangt – abgesehen von einigen Ureinwohnern, versprengten mexikanischen und spanischen Besatzern oder gelegentlich ein paar Schiffbrüchigen, die dann für alle Zeit, als dauerhaft Isolierte, in der Falle saßen, schlimmstenfalls elendig zugrunde gingen. Für die sich kaum eine Chance auftat, von dort zurück in die »Zivilisation« zu gelangen oder gerettet zu werden. Ein Naturparadies »in the middle of nowhere«, keine zwei Flugstunden von zwei Millionenstädten und riesigen Ballungszentren entfernt und paradoxerweise bis heute einzig einer staunenswert vielseitigen Fauna und Flora vorbehalten.

      Alles Humane störte hier, wo Redwoods, verwunschene Strände und Endlosküsten das Sagen haben, nur. Von Siedlungen oder Geschichte war nicht die geringste Spur vorhanden. Mit dem, was wir »Kultur« nennen, war bislang keine Kreatur in Berührung gekommen. Big Sur: ein so mächtiges wie diskretes Fleckchen Erde, das der Inbesitznahme trotzte, das sich Eroberern und abenteuerlustigen self-made men standhaft verweigerte. Das sich nicht unterwerfen noch verwerten ließ. Widerständiges Land. Jungfräuliches Land.

      Je weniger man über dieses prächtige, alle Sinne überwältigende Big Sur wissen oder auch nur in Erfahrung bringen konnte, desto mehr wurde es besungen. Desto häufiger wurden die wildesten Gerüchte über seine Beschaffenheit und seine Magie in die Welt gesetzt, gelangten vage Ahnungen und aus der Luft gegriffene Legenden über sein »fabelhaftes« Wesen in Umlauf, desto faszinierender, desto unerklärlicher und anziehender wurde diese rough coastline. Manche Debütanten, so wusste der Schriftsteller und Big-Sur-Experte Henry Miller aus Erfahrung, ließen sich zu wenig tauglichen Vergleichen »mit gewissen Teilen des Mittelmeergestades« hinreißen, andere bemühten Ähnlichkeiten mit der Küste Schottlands. Aber solche Gegenüberstellungen und bemühten Parallelen »besagen nichts. Big Sur hat ein eigenes Klima und einen eigenen Charakter. Hier berühren sich die äußersten Gegensätze. Es ist eine Gegend, wo man sich immer des Wetters, des Raumes, der Großartigkeit der Landschaft und ihres beredten Schweigens bewusst ist.«

      Bis in die Neuzeit bewahrte diese coastline ihre Unschuld und ihre Geheimnisse. Während der Great Depression konnte man dann endlich hinter den Vorhang schauen und Einblicke gewinnen, was sich hinter diesem Naturwunder verbarg: Erst mit dem Bau eines neuen Abschnitts des mythischen kalifornischen Highway One, der sowohl eine bewundernswerte Pionierleistung von Straßenbauern, Ingenieuren und Architekten als auch eine veritable technische Errungenschaft darstellte und im Rahmen des New Deal fertiggestellt wurde, rückte Big Sur in den späten 1930ern allmählich in den Blick einer interessierten, ja neugierigen Allgemeinheit. Von diesem Highway aus, auch California State Route One – mit ihren Sektoren Cabrillo, Shoreline oder Pacific Coast Highway – genannt, wurden erste Aufnahmen angefertigt, präzisierte sich die Vorstellung von dieser einstmals unvorstellbaren Terra incognita.

      Wer es eilig hat – das gilt auch heute noch, weit mehr als damals, vor dem Zweiten Weltkrieg –, durchquert Kalifornien von Nord nach Süd oder umgekehrt statt auf dem begeisternd schönen Sightseeing- und Naturwunder-Highway Carmel–San Simeon auf einer jenseits der Gebirgskette verlaufenden, inländischen Achse. In unseren Tagen vornehmlich auf der hoffnungslos überfüllten Interstate Five, einer mehrspurigen Autobahn, auf der sich tagtäglich eine nicht enden wollende Blechlawine aus den Suburbs von L.A. in die hoch entwickelten Bezirke östlich des Silicon Valley und der San Francisco Bay quält, von einer Metropolregion in die nächste.

      Wer sich dagegen Zeit nimmt – wer auch heute noch die nötige Muße für dieses einschneidende Erlebnis findet –, der wählt eben mit Bedacht den Küstenhighway One. Und was man dort während einer mehrstündigen, kurvigen Fahrt in geringem Tempo an grandiosen Naturspektakeln zu sehen und an einzigartiger Ruhe zu hören bekommt, sucht seinesgleichen. Selbst welterfahrene, hartgesottene oder blasierte Reisende, die so schnell nichts mehr beeindrucken kann, verstummen angesichts solcher, kaum in Worte zu fassender Eindrücke. Felsen. Zerklüftete Berghänge. Wind. Stille. Tosende Brandung. Weite. Unverstellte Nacktheit. Ein einziger Horizont und unzählige Horizonte, so weit das Auge reicht.

      An den wenigen Aussichtspunkten mit ihren wahrhaft atemberaubenden Panoramen halten die Besucherinnen und Besucher an und halten inne. Nehmen diese Küste, der so gar nichts Südliches anhaftet, an der aber alles, wirklich alles »big« und überdimensioniert ist, ergriffen in den Blick. Starren von der Bixby Creek Bridge fast andächtig in die Tiefe, legen Stopps am Point Sur und in Notleys Landing, bei Gorda oder Ragged Point ein. Oder nehmen die Piedras Blancas Rookery, eine beachtliche Seeelefanten-Kolonie, in Augenschein. Ohne Zweifel zählt dieser imposante Abschnitt der Küstenstraße, gesäumt vom Los Padres National Forest, den Carmel Highlands, meistens westlich des Pfeiffer State Park und des Julia Pfeiffer Burns State Park verlaufend, zu den Traumstraßen dieser Erde. Kommt einem Sehnsuchtspfad in eine »Sanfte Neue Welt« gleich, dem nichtsdestoweniger kaum noch etwas Liebliches eignet. Und wenn solche kontemplativen Zeitgenossen mit Geduld, Ausdauer und Einfühlungsvermögen bis zum Abend ausharren, bemerken sie als Erstes, dass diese Küste auf einen ewigen Sonnenuntergang ausgerichtet ist.

      Alles, was man von hier aus sieht und wahrnimmt, ist Westen, ist nichts als Leere und blaue Fläche, gehört einzig und allein dem sunset. Das Meer in Cinemascope. Womöglich bekommt man schon beim ersten Schauen und Staunen eine Ahnung davon, was mit Begriffen wie innerer Einkehr, emotionaler Freiheit, Unberührtheit und fundamentaler


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