Big Sur. Jens Rosteck
vormals nicht getraut hatte. So als hätte er eine vorübergehende geistige Lähmung überwunden, fand er sein Selbstvertrauen wieder. Ohne gestützt werden zu müssen, gelang es dem sichtlich erleichterten Linus in Begleitung vom Sheriff und einem Mann aus dem Verstärkungstrupp, die Klippen hinter sich zu lassen und am Strand entlang wieder zu seinem Haus zu wandern. Sogar zu flachsen vermochte er. Und er nahm auch ein arg verspätetes Mittagessen ein. Noch schien ihm die gerade zurückliegende Erfahrung nicht zuzusetzen, er wirkte weder konfus noch überwältigt, ließ sich keine übertriebenen Emotionen anmerken und verfiel auch nicht in freudige Hysterie.
An einen vollständigen Rückzug und echte Entspannung daheim war jedoch an diesem Sonntag vorerst nicht zu denken. Zunächst galt es, viele Hände zu drücken, aufrichtigen Dank auszusprechen sowie einige aufdringliche Reporter und andere hartnäckige Neugierige abzuwimmeln, mit denen Ava ihre liebe Not hatte. Einige sensationslüsterne Journalisten hatten unterdessen, noch bevor man Linus ausfindig gemacht hatte, voreilig das törichte Gerücht in Umlauf gebracht, Pauling sei tot – was von einer Radiostation in der San Francisco Bay Area unüberprüft verbreitet wurde und zwei von Paulings erwachsenen Kindern zu Ohren kam, noch bevor es dementiert werden konnte. Sie waren entsetzt, mussten mehrere Stunden lang mit der Falschnachricht klarkommen und beruhigten sich erst wieder, als sie sich vor Ort persönlich vom Gegenteil überzeugen konnten.
Auch sonst war das Medienecho auf den Vorfall in Big Sur beträchtlich – bescheiden für heutige Verhältnisse, nach damaligen Maßstäben aber enorm und voller wilder Spekulationen. Was Linus anging, so ließen Nachwirkungen wie die Freude, überlebt, der Triumph, dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen, und die Einsicht, sich aus Fahrlässigkeit in eine bedrohliche Situation manövriert zu haben, noch eine Weile auf sich warten. Gemeinsam mit Ava belud er sein Auto und kehrte nur zwei Tage nach seiner Rettung an seine langjährige Wirkungsstätte in Pasadena, ans angesehene California Institute of Technology, kurz Caltech, zurück. Am Dienstag machte er sich dort zu einer Vorlesung auf, so als wäre es ein beliebiger Tag an der Uni und als hätte er sein traumatisches Erlebnis bereits vollständig verdrängt. Dann aber verließ ihn, von einer Minute auf die andere, kurz nach dem Eintreffen die Beherrschung. Er weigerte sich, ohne eine Erklärung abzugeben, an einer kleinen Willkommensfeier teilzunehmen, die man ihm zu Ehren ausrichten wollte, schritt grußlos, brüsk und in sich gekehrt an Kollegen, Studierenden und Freunden vorbei, verschanzte sich in seinem Büro und ließ alle Verdutzten wissen, dass er sich den Tag freinehme und solange um Rücksicht bitte, indem er eine entsprechende Notiz unter seiner Tür hindurchschob. Wieder wurde der Schwiegersohn verständigt, der Pauling gut zuredete und ihn schließlich heimfuhr, diesmal in das Haus in Pasadena.
Erst jetzt traf ihn der Schock mit ganzer Wucht. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, dass er sich und den Seinen einen gehörigen Schrecken eingejagt, dass er sich selbst mit seiner leichtsinnigen Aktion eine Lektion in Demut erteilt hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als tagelang das Bett zu hüten, wo er das Erlebte wieder und wieder Revue passieren ließ und die monotone Erfahrung der Mutlosigkeit reaktivierte. Mit allen unerfreulichen Details. Ein zurate gezogener Arzt verordnete Ruhe und kümmerte sich vornehmlich um einen Hautausschlag Paulings, den sich sein Patient in seinem Bett aus Laub und Zweigen zugezogen und der Allergien und Juckreiz bei ihm ausgelöst hatte. Linus, dem Eloquenten, gingen die Worte aus. Stumm und teilnahmslos dämmerte er in seinem Schlafzimmer vor sich hin, haderte mit seinem Zustand, quälte sich mit Zweifeln und Selbstvorwürfen. Ein Besuch von Tochter und Enkelkindern heiterte ihn nicht auf, sondern ließ ihn die Fassung verlieren und in Tränen ausbrechen. Womöglich konnte ihn aber ein liebevolles und auch witziges Telegramm von Marlon Brando wieder aufmuntern. Darin bat der gefeierte Filmschauspieler den »lieben Dr. Pauling«, sich doch bitte in Zukunft von abschüssigem Gelände und steilen Felsen fernzuhalten. Jedenfalls so lange, bis die brennenden Fragen der Atomtests und der Abrüstung endgültig geklärt seien – schöner, ironischer und einfühlsamer konnte man kaum in wenige Worte fassen, dass viele Menschen in den USA und anderswo auf Linus’ Engagement nicht verzichten konnten und wollten, dass sie auf ihn, ein Vorbild und ein Ausbund an Geradlinigkeit, setzten und dass schon diese kurze Unterbrechung von ihnen als empfindlicher Verlust empfunden wurde.
Überall wurde der Hoffnungsträger Pauling vermisst. Glück- und Genesungswünsche aus der ganzen Welt trafen bei ihm ein; Hunderte sprachen ihm schriftlich und mündlich Mut zu. Vertraute wie Wildfremde versetzten sich in Briefen und Gedanken in die Lage des auf seiner Klippe Gefangenen, der sich insgeheim noch immer keinen Reim darauf machen konnte, warum er hoch oben über dem Meer, angezogen und festgehalten von einem übermächtigen, unsichtbaren Magneten, keinen Ausweg zu finden vermocht hatte und passiv geblieben war. Es war ihm ein Rätsel, warum er sich dort oben in der Einsamkeit als hilflos und handlungsunfähig erwiesen hatte. Zwei ganze Wochen dauerte die dringend notwendige Regenerationsphase, in der wohl auch viel Hektik und Stress als Folge seiner zahllosen Aktivitäten in den Vorjahren von ihm abfielen. Die Verunsicherung saß weit tiefer, als er es sich anfangs eingestehen mochte. Für alle Zeit war er zum Opfer seines eigenen Übermuts, seiner eigenen Naivität geworden – diese Erkenntnis ließ sich weder beschönigen noch auslöschen.
Als er einigermaßen erholt, bescheiden und dankbar geworden und erst unvollkommen geläutert wieder ins Alltagsleben zurückkehrte, wusste er nur eines mit Sicherheit: In Big Sur, wo er 1994 dann auch, nach einem erfüllten Dasein, dereinst das Zeitliche segnen sollte, hatte er, mutterseelenallein über dem Ozean thronend und von seiner eigenen Zaghaftigkeit wie eingekerkert, zum ersten Mal dem Tod ins Auge geblickt.
Dann drehte er sich nach Westen und flüsterte:
»Eines Tages werde ich ihn sehen, den gewaltigen Pazifik.«
Seine Worte waren voller Sehnsucht.
Es gab nichts, was er sich inniger wünschte.
Ich glaube nicht, dass ich je ein solches Sehnen in seiner Stimme gehört hatte.
Es ging nur um Wasser und Wellen,
aber sein Wunsch kam aus tiefster Seele.
An der Wand in seinem Zimmer hing ein riesiges Poster
mit dem Titel »Big Sur, Kalifornien«.
Manchmal lag er stundenlang auf seinem Bett
und starrte einfach nur auf das leuchtend blaue Meer
und seine weiß schäumenden Wellen,
die an gelben Felsen hochspritzten wie Champagner,
während weiter oben Möwen
über einer Küstenkiefer mit flacher Krone schwebten.
Es war ein besonderer Ozean.
Es war seiner.
Mark Thompson, El Greco und ich
»Into the Wild«
Big Sur. Zweimal drei Buchstaben. Zwei kurze Silben, eine englische und eine spanische, aber nicht spanisch ausgesprochene. Zwei Silben, die eigentlich nicht zusammengehören und klanglich kontrastieren. Und doch eine Einheit, unter der man sich unmittelbar etwas vorstellen kann. Etwas Gewaltiges. Denn Sur – das klingt wie Sir, das hat etwas Majestätisches und Herrschaftliches. Mit diesem winzigen Zwitternamen, mit dieser eigentümlichen Zusammen-Setzung von Unvereinbarem, verbindet man unwillkürlich auch ein gewaltiges Versprechen – hier beginnt der Große Süden, hier tut sich eine gänzlich neue, unbekannte Region von gigantischen Ausmaßen auf. Für Neugierige, Neuankömmlinge und Entdeckernaturen: eine Verheißung.
Big Sur. Ein schwach besiedeltes Niemandsland, in dem nur die Elemente zu Hause zu sein scheinen und kein sterbliches Wesen eine echte Heimat findet. Hier, im einstigen »el país grande del sur«, aus dem zwischenzeitlich »el sur grande« wurde, bevor man eine merkwürdige Mischbezeichnung dafür prägte; hier, wo sich ein riesiges Stück Land weder von den spanischen Kolonisten noch von den mexikanischen Verwaltern oder heutzutage von den Amerikanern vereinnahmen ließ und lässt, zerschellen die Wellen und brechen sich die heranflutenden, eisigen Wassermengen an der rauen, untergründigen Strömungen ausgesetzten Küste. Noch dazu, um es mit den Worten des Komponisten