Big Sur. Jens Rosteck

Big Sur - Jens Rosteck


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      Noch bis in unsere Tage ist Big Sur ein Inbegriff von Unversehrtheit, gilt als Musterbeispiel intakter Natur und bemerkenswerter ökologischer Stabilität, präsentiert sich als eine friedfertige, heilige Örtlichkeit, an der die potenziell verheerende Präsenz von »westlichen Werten« unerwünscht ist und wo Touristen eigentlich nichts zu suchen haben. Letzteres hat sich inzwischen allerdings leider gründlich geändert – insbesondere seit dem Jahrtausendwechsel fallen Mietwagenfahrer und Kalifornien-Neulinge, Einheimische wie Ausländer, wie Heuschrecken nach Big Sur ein, obwohl »Sehenswürdigkeiten«, Parkplätze und öffentliche Toiletten Mangelware sind, von Einkaufsmöglichkeiten, Lokalen oder »Ortschaften« ganz zu schweigen. Überdies machen Erdrutsche, Überschwemmungen, Waldbrände und monatelange Straßensperrungen der Region schwer zu schaffen. Durchaus problematische Aspekte.

      Big Sur, die Heimat von Mammutbäumen, Grauwalen, Seeottern und Seelöwen, von Salamandern, Geiern, Zugvögeln und Berglöwen sowie seit Neuestem wieder die Brutstätte kalifornischer Kondore, galt vor dem neuzeitlichen Sündenfall lange als modellhafter secret spot, wo die Elemente, wo Tiere und Pflanzen ohne Eingriff von außen über die Zeitläufte hinweg sehr gut miteinander ausgekommen und autark geblieben sind. Wo man der Erosion nicht mal im Zeitraffer auf die Schliche kommen konnte. Eine Befindlichkeit, die man im Grunde auch weiterhin respektieren, ein Urzustand, den man tunlichst in Ruhe lassen sollte.

      Genau diese Anmaßung machte gleich nach Vollendung des Carmel–San Simeon Highway und der damit einhergehenden Zugänglichkeit für jedermann und -frau offenbar aber auch – zunächst für Prominente, Lebenskünstler, Ex-Großstädter und Pioniere eines alternativen Lifestyle – einen seltsamen Reiz aus: diesem sich eigentlich wie von selbst aufdrängenden Tabu zuwiderzuhandeln oder es einfach zu ignorieren. Und sich stattdessen einer solchen Kargheit und spröden Natur willentlich auszusetzen, einem solch harschen Klima die Stirn zu bieten und »heimisch« zu werden, indem man sich ganz einfach, allen vernünftigen Einwänden zum Trotz, hier für eine gewisse Zeitspanne anzusiedeln versuchte – auch wenn man dabei zum einen Gefahr lief, ins natürliche Gleichgewicht einzugreifen und es damit ordentlich ins Schwanken zu bringen, oder wenn man zum anderen, mit einer gehörigen Portion Naivität ausgestattet, in Kauf nahm, die eigene Existenz extremen Risiken auszuliefern.

      Viele verspürten Lust auf das Abenteuer Big Sur. So entstand im Laufe der frühen 1940er- bis in die 1960er-Jahre hinein, sowohl am »Hauptort« als auch in dorfloser Einöde, an Hängen mit Panoramablick oder an einigermaßen windgeschützten Küsteneinschnitten, so etwas wie eine – wenngleich weit versprengte, kaum kohärente – Künstlerkolonie. Mit nur wenigen Dutzend Seelen, verstreut auf Aberdutzende von Quadratkilometern, wo man nur selten einem Artgenossen begegnete, aber gelegentlich einen Straßenkreuzer, ein Forstfahrzeug oder Bautrupps auf der Ladefläche eines Trucks vorbeibrausen sah oder resigniert unbekannten Vorbeiziehenden hinterherblickte, die sich in Staubwolken auf und davon machten.

      Was fast alle unterschätzten: Es war kompliziert und umständlich, sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Man hauste, nolens volens, in improvisierten Unterkünften, man musste oftmals auf Strom und Heizung verzichten. Keine schmucken Residenzen oder prachtvollen Zweitwohnsitze hatte Big Sur seinerzeit zu bieten, anfangs kam nichts als bescheidene Hütten infrage, Verschläge oder Buden gar, mit dem Allernötigsten ausgestattete cabins. Und Ablenkungen: Fehlanzeige.

      Alles, nur keine Idylle. Alles, nur kein lieblich-idealisierter Locus amoenus. Omnipräsent hingegen: beißende Kälte und wilder Sturm, brütende Hitze und Dauerregen, Mangel an Anregungen und die außerdem fortgesetzt deprimierende Unmöglichkeit, rasch oder effektiv zu kommunizieren. Mit Kopfschütteln reagierten Außenstehende, wenn sie gelegentlich lasen oder hörten, wie Intellektuelle und Schauspieler hier absichtlich mit dem Phänomen Verzicht experimentierten; sie machten sich rasch über vermeintliche Greenhorns und Esoteriker, über Versager und Verrückte lustig. Über berühmte Leute wie etwa Rita Hayworth oder Orson Welles, die aus einer Laune heraus hierbleiben wollten und Sesshaftigkeit ernsthaft in Erwägung zogen – und die sich gleichwohl rasch wieder aus dem Staub machten. Über Starrsinnige, die an den unwahrscheinlichsten Orten Restaurants aufmachten oder eine Bibliothek ansiedelten, über Eigenbrötler, die ohne Not monatelang in windschiefen Kabuffs ausharrten und, in einem Getto aus lauter Einsiedlern, am Ende zu weltfremden Sonderlingen mutierten.

      Die ersten unter diesen Aussteiger-»Siedlern« kümmerten solche Vorurteile oder auch von »Vernunft« gekennzeichneten Vorbehalte allerdings wenig: Ihnen war es gleichgültig, wenn sie sich in den Augen von Schreibtischtätern und Ignoranten systematisch lächerlich machten. Ihnen schwebte etwas anderes vor: Sie suchten ganz bewusst nach dem Nichtvorhandensein von Annehmlichkeiten. Sie wollten sich gezielt in einen anderen Zustand begeben. Sie begannen sich ernsthaft mit Entbehrungsreichtum auseinanderzusetzen. Sie bejahten die Askese.

      Ihnen allen gemein – auch denen, die irgendwann zu zweifeln begannen, die mit ihrem selbst gewählten Exil haderten, die scheiterten, die durchdrehten oder nach langen Monaten dann doch die Flucht antraten und den Rückzug ins Bequeme wählten – war eine tief greifende, unerschütterliche Bewusstseinsänderung.

      In den stark variierenden Aussagen solcher Persönlichkeiten über ihre jeweils erste Begegnung mit Big Sur, Beschreibungen, die nahezu immer von einem sinnlich-körperlichen, »auf sehr komplexe Weise emotionalen Effekt« handeln, wie John Adams es ausdrückte, ergeben zusammengenommen ein staunenswertes, widersprüchliches Kaleidoskop. Viele Romanciers und Maler, viele Lyriker und Komponisten, viele Sänger und Wissenschaftler haben den Versuch unternommen, diesen Effekt und sein Echo (namentlich die Wirkung auf ihre Psyche) in Worte und Töne zu fassen oder einen angemessenen Ausdruck dafür zu finden. Es kam aber vor allem darauf an, welche Bedeutung sie ihren Erlebnissen zuschrieben und ihren Leserinnen und Hörern präsentierten, war das Erlebte ja oft für sie selbst kaum nachvollziehbar oder begreifbar.

      Der Autor Richard Brautigan etwa bezeichnete, so despektierlich wie ironisch, in der Einleitung seines 1965 erschienenen Romans A Confederate General from Big Sur (dt. Ein konföderierter General aus Big Sur) das Santa-Lucia-Gebirge als »tausend Jahre alte Penne für Pumas und Flieder« und den Pazifik bei Big Sur »als Millionen Jahre alte, vergammelte Vergnügungsstätte für Abalonen und Seetang«. In seiner überspannten Fantasie schlug er Big Sur, historisch und geografisch natürlich unhaltbar, ohne Umschweife schalkhaft den Südstaaten der USA zu und machte ihre Naturphänomene im Nachhinein zu Kriegern und zu politisch handelnden Gestalten des Amerikanischen Bürgerkriegs: »Ehrlich gesagt, es ist schwer zu glauben, dass diese einsamen, kahlen Berge und kliffartigen Strände Kaliforniens Rebellen gewesen sind, dass die Rotholzbäume, die Zecken und Kormorane auf diesen schmalen hundert Meilen Land, die zwischen Monterey und San Luis Obispo liegen, die Fahne der Rebellen geschwenkt haben« sollen. Das war natürlich pure Erfindung und auch ausgemachter Quatsch – doch Humor und Absurditäten, Wirklichkeitsverzerrung, Karikatur und Überzeichnung hatten in Big Sur von jeher ihren Platz.

      Nicht selten kamen Effekt und Echo einem ästhetischen Clash gleich: So manche dieser überaus empfindsamen Künstlerseelen waren von Big Sur wie vom Donner gerührt, verstört oder auch nach Tagen noch reichlich desorientiert. Eine kleine Ewigkeit brauchten sie, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Einige Sinnsucher kämpften mit ihrer Ratio und befanden sich inmitten eines Orkans widerstreitender Emotionen. Sie fühlten sich einer zerstörerischen, gleichwohl erhabenen Kraft ausgesetzt. Überwältigt und zugleich »am Ziel« angelangt.

      So entstanden, im Laufe der Jahrzehnte, bildmächtige, aufregende Hommagen und Hymnen an Big Sur – und auch regelrechte Abrechnungen mit dem unwirtlichen, ja feindseligen, doch landschaftlich verlässlich grandiosen Küstenabschnitt. In den Gedichten, Berichten und Romanen einer Handvoll von Autoren, in den Songs und Musikstücken einer Handvoll von Interpreten werden die Erfahrungen, die sie heraufbeschwören, stets von einer Aufgabe des emotionalen Gleichgewichts und von einem Kontrollverlust begleitet, ist eigentlich immer von Grenzüberschreitungen und Bewusstseinserweiterung die Rede, von intimen Gefühlen und seelischen Abgründen.

      Regelrecht versunken und abgetaucht waren diese Menschen und begaben sich in die Obhut dieser Region. Darunter eine ganz eigene Spezies, die deep thinkers and heavy drinkers. Jede Menge schwarze Schafe auch. Freundliche Neurotiker. Loser. Sowie Leute, die ihr kreatives Pulver längst verschossen


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