Niewetow. Karsten Stegemann

Niewetow - Karsten Stegemann


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      Ich hätte noch bleiben, mit ihr Tee trinken sollen, aber ich war nicht ihretwegen hier.

      In der Tür blieb ich nochmal stehen und lauschte. Stöhnte sie noch irgendetwas in ihrem alten Schlaf? Ich spürte, wie mich ihr Atem hinausschob.

      Auch die Tür des alten Mannes war nicht abgeschlossen, schien darauf zu warten, dass der Wind oder der Regen oder irgendein bleicher Fremder eintrat. Stattdessen tat ich es, zögernd.

      Das Zimmer sah aus wie eine Durchgangsstation. Man musste sich durch Stapel von eingedrückten und teilweise aufgerissenen Kartons zwängen, und selbst die Position der Möbel wirkte provisorisch. Auf dem Fernsehtisch stand zwischen Bergen von Briefen, Werbeprospekten und Zeitungen das Zahnputzzeug, die Wäsche war zum Trocknen auf Stuhllehnen verteilt. Wie ein Tiefseetaucher in einem alten Bootswrack bewegte ich mich durch die Hinterlassenschaften, haushaltend mit meinem Atem in dieser Atmosphäre der Versunkenheit. Plötzlich stockte ich und schnappte gierig nach Luft, denn dort an der Wand überm Bett stand ein Name. Jemand hatte ihn in den Putz gekratzt, immer wieder und wieder, als hätte er Angst, ihn zu vergessen, als schrecke ihn die Vorstellung, eines Morgens zu erwachen und keinen Namen mehr zu haben.

      Wilhelm. Und Willi. Und dann ein paarmal nacheinander: Schmitt. Schmitt. Schmitt.

      Und darunter dann Wilhelm Schmitt.

      Und Schmitt, W.

      Das Bett quietschte unter mir, als ich mein Gewicht darauffallen ließ. Ich strich mit den Fingerkuppen über den Putz. Da stand noch etwas anderes. Eine Botschaft, ein Hinweis, eine Spur?

      Ich erinnerte mich an einen Trick aus alten Kriminalfilmen: Der Detektiv streicht mit einem weichen Bleistift über die unsichtbaren Eindrücke auf einem weißen Notizblock und macht den vorher auf dem fehlenden Blatt darüber verfassten Text wieder sichtbar.

      Genau das tat ich jetzt. Ich strich mit einem Bleistift ganz sacht über die Wand. Kratzer zeichneten sich ab, Figuren, Formen, Fetzen aus den Wachträumen eines alten Mannes, und ganz unten, direkt neben dem Laken: Er steht wieder im Flur.

      Mir knackten die Knie vor Schreck, als ich mich zusammenkauerte. Das war doch ich, dachte ich, vor zehn Minuten vor dem Zimmer der Alten oben. Und eben gerade noch vor diesem hier. Und letzte Nacht der Regen, die

      Fähre. Und der Dieselgestank und das Stöhnen und das Knarren der Planken, weil hinter mir sich jemand hastig entfernt.

      Er steht wieder im Flur.

      Er saß hinten auf der Fähre.

      Nein, das ging jetzt etwas zu weit. War es etwa ein Verbrechen, auf einer Fähre Fahrgäste zu erschrecken oder im Dunkeln in Hausfluren rumzustehen?

      Ich starrte erneut auf die Zeichen an der Wand, so vage und undeutlich wie vorhin das Geflüster der Alten. Ich zog mich zurück von diesen schrecklichen Überbleibseln der Einsamkeit und der Verzweiflung.

      Draußen im Hausflur suchte ich nach Spuren für den nächtlichen Aufenthalt eines Fremden, ohne zu wissen, was für welche. Natürlich fand ich gar nichts. Ich kam mir lächerlich vor.

      »Man sollte einfach die Türen verriegeln!«, rief ich laut in den Flur hinauf. Doch schon mein Versuch, die Haustür zu schließen, scheiterte.

      5

      Als ich bei der Polizeiwache ankam, trat gerade Hauptkommissar Krummnow auf die Straße. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht, zog sich nochmal kurz hinter die Drehtür zurück und trat dann so vorsichtig auf mich zu, als näherte er sich einem Sprengsatz.

      »Ach Sie, wie geht es Ihnen? Haben Sie sich erholt?«

      »Ich weiß jetzt, wie der Ermordete heißt.«

      »Ermordet?«

      Krummnow ging an mir vorüber auf seinen Wagen zu, der am Straßenrand parkte.

      »Jedesmal, wenn auf dieser Insel einer mit einem Herzinfarkt zusammenbricht oder in ein Schlagloch stolpert oder besoffen ins Wasser fällt, taucht am nächsten Tag jemand auf mit Hinweisen auf den wahren Verursacher des Falls. Sie haben diesen Herzinfarkt-Schlagloch-Blick, und ich hab letzte Nacht schlecht geschlafen. Also stehlen Sie mir bitte nicht meine Zeit, Sie rasender Reporter, Sie.«

      »Sie wissen also, für wen ich arbeite?«

      »Wer wüsste das nicht in Niewetow? Sie gehen einer Menge Leute hier gehörig auf die Nerven. Zu viel heiße Luft, mein Bester!«

      »Oh.« Ich stand Krummnow gegenüber, auf der anderen Seite seines Wagens, und schluckte herunter, was ich eigentlich hätte entgegnen sollen.

      Krummnows Blick nahm plötzlich den Ausdruck väterlichen Schuldbewusstseins an.

      »Ach Gottchen«, seufzte er.

      »Was?«

      »Wissen Sie, was mich stört an euch Amateurdetektiven?«

      »Ich bin kein Amateurdetektiv, sondern Reporter von Beruf.«

      »Ach so, ein Schnüffler mit Schreibmaschinenkurs. Wenn Sie schon so lange mit Mord und Totschlag beschäftigt wären wie ich, dann wüssten Sie auch, dass jeder Möchtegernzeuge, der zu uns hereinstolpert, so voller Beweise steckt, dass man über die Jahre Archive füllen könnte mit all den wilden Phantasien. Würden wir nämlich auf jeden Schwätzer etwas geben, der uns anruft, dann stünde bald die halbe Insel unter Mordverdacht. Warum also sollte ich auf einen Nachwuchsschreiberling hören, der es noch nicht mal zu einer festen Anstellung gebracht hat?«

      Ich zuckte zusammen.

      »Als Reporter kenne ich mich immerhin ein wenig aus mit den verborgenen Seiten des Geschehens, glauben Sie mir.«

      »Dafür weiß ich mehr über Tatsachen. Oder fürchten Sie, Tatsachen könnten Sie verwirren? Sagen Sie, mussten Sie eigentlich irgendwann in Ihrem Leben jemals mit etwas wirklich Unangenehmem fertig werden?«

      »Was meinen Sie?«

      »Unheilbare Krankheiten, Vergewaltigung, Tod …«

      »Der Tod meiner Eltern.«

      »Natürlicher Tod?«

      »Ja. Aber ein Onkel von mir kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben.«

      »Waren Sie dabei?«

      »Nein, aber …«

      »Es zählt nur, wenn Sie’s mitangesehen haben. Ist Ihnen schon mal was Vergleichbares passiert, wie eine Leiche in einem versunkenen Bauwagen zu finden?«

      »Nein«, antwortete ich nach kurzem Zögern.

      »Na bitte. Sie stehen immer noch unter Schock. Beruhigen Sie sich, und gehen Sie wieder an Ihre Arbeit.«

      Er schien zu bemerken, wie er immer lauter wurde. Er schüttelte den Kopf und brummte vor sich hin: »Oder vielleicht sollte ich mich beruhigen.«

      Er öffnete die Wagentür, stieg ein, und ehe ich etwas Passendes erwidern konnte, brauste er davon.

      Verärgert stürzte ich zur nächsten Telefonzelle, warf eine Münze in den Schlitz und wählte die Nummer eines Apparats jenseits des Stroms auf dem Festland. Als endlich jemand abhob, hörte ich aus einem Radio »Sunshine Reggae« dröhnen, eine Tür zuknallen, eine Toilettenspülung rauschen, und langsam begann sich meine Stimmung aufzuhellen.

      Die Frau am anderen Ende hielt eine Weile den Hörer in der Hand, räusperte sich dann und fragte: »Was gibt’s?«

      »Frau Kapell!«, rief ich, brach ab und begann noch einmal. »Frau Kapell, ich bin’s, Daniel.« – »Wer?« Sie überlegte eine Weile. »Sie wollen Fanny sprechen.«

      »Sie brauchen ihm nur etwas auszurichten. Würden Sie das tun?«

      »Kein Problem.«

      »Sagen Sie ihm, ich muss ihn unbedingt sehn. Ich bin in zwei Stunden bei ihm. Danke.«


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