Niewetow. Karsten Stegemann

Niewetow - Karsten Stegemann


Скачать книгу
mir hatte, und rannte los, um die nächste Fähre zu erreichen. Vom Festlandhafen aus nahm ich den Bus. Eigentlich hieß Fanny Matthias Schmieder, aber nie rief ihn jemand bei seinem bürgerlichen Namen. Ich hatte ihn vor Jahren bei Recherchen zu einer Reportage über ostdeutsche Bluesbands kennengelernt, und der Kontakt zwischen uns war auch danach nicht abgerissen.

      Fanny war sehr umfangreich und saß im Rollstuhl. Ich hatte ihn noch nie anders gesehen und war mir sicher, er schlief sogar auf Rädern. Er bewegte sich so wenig wie möglich, und wenn er durchs Zimmer rollte, dann nur unter schwerem Gekeuche. Er tat dies auch nur, um hinüber in die enge Küchenzeile oder ins Bad zu gelangen, wo er früher oder später nicht mehr herauszukommen, hoffnungslos in der Falle zu sitzen befürchtete. »Mein Gott«, stöhnte er oft, »stell dir vor, die Feuerwehr müsste mich eines Tages da herausschneiden.« Und dann rollte er zurück an seinen Stammplatz neben der Stereoanlage, nur eine Armlänge vom Kühlschrank entfernt, der bis obenhin voller Chipstüten und Bierpaletten war. Er aß und hörte ununterbrochen Musik. Neben dem Kühlschrank standen Regale, gefüllt mit Hunderten von Schallplatten und Tonbändern, frühe Aufnahmen sowohl von den Anfängen des Südstaatenblues als auch die neueste Free-Jazz-Einspielung, und ich stellte mir vor, wie Fanny, wenn gegen Morgen die letzten Takte verklungen waren und die letzte Platte knisternd aufhörte, sich zu drehen, in sich zusammensank wie ein vom Dunkel überwältigter Elefant. Die erschöpften Knochen begaben sich in ihren mächtigen Fleischbergen zur Ruhe, und sein rundes Gesicht war der Mond, der über das weite Gebiet seines geschundenen Körpers wachte.

      6

      Ich stand vor der Haustür und horchte. Eine Stimme hallte durch den Hausflur. Sie hob an mit einer Art Röcheln, fiel als Jaulen herab bis ins Erdgeschoss und strömte heulend durch den Flur heraus: die unerhörte Klage einer ausweglos abgeschiedenen Seele, so fernab all dessen, was allgemein unter Gesang verstanden wurde, dass es kaum noch als menschliche Lautäußerung gelten konnte.

      Als ich zum ersten Stock hinaufstieg, erkannte ich ein paar Zeilen aus »Sittin’ On The Top Of The World«. Als ich oben vor Fannys Wohnungstür stehen blieb, bestieg ein schwarzer Junge gerade den Mississippidampfer Richtung Norden und warf einen verächtlichen Blick zurück auf die erbärmliche Hütte seiner Familie. Es war die Stimme eines afrikanischen Baumwollpflückers, der nach der Plackerei unter sengender Südstaatensonne dem Himmel zur Nacht seine unerwiderte Liebe klagt. Was mich durch das alte Treppenhaus hinaufzog, war diese Stimme, ein Versprechen der Unzerstörbarkeit, die sich dort oben jemand ersehnte.

      Ich wusste, der Gesang würde mit meinem Läuten abbrechen.

      »Fanny«, sagte ich, »als ich die Treppe hochkam, hab ich hier oben jemanden singen gehört.«

      »Wirklich?«

      »Klang beinahe wie Howlin’ Wolf.«

      »Seltsam. Wer das wohl gewesen sein mag?«

      Wir spielten dieses Spiel seit Jahren, sprachen über Musik, diskutierten über Blues, Bebop, Modern Jazz, hörten die alten Platten wieder und wieder, aber nie, nicht ein einziges Mal in der ganzen Zeit, hatte Fanny gesungen, wenn ich im Zimmer war.

      Auch heute war es nicht anders; als er mir öffnete, setzten die Instrumente ein. Fanny hatte die Nadel auf die Platte gelegt, war zur Wohnungstür gerollt und hatte mit der Klinke in der Hand gewartet. Als der Meister mit den Lippen das Blech berührte, riss er die Tür auf. Miles’ Trompete rief nach mir, zog mich unwiderstehlich hinein. Fanny half nur etwas nach.

      Es war die A-Seite von »Bitches Brew«. Fanny dirigierte mich in einen wackligen Sessel, ergriff meinen Arm und drückte mir ein Whiskyglas in die leere Hand.

      »Um die Zeit bitte keinen Whisky, Fanny.«

      »Blödsinn. Schau dich mal im Spiegel an! Zum Wohl!«

      Er stürzte sein halbvolles Glas in einem Zug hinunter und stieß befriedigt die Luft aus seinem Innern.

      Ich trank den guten Tropfen in winzigen Schlucken. Es war ein sechzehn Jahre alter Single Malt, mitgebracht von einem von Fannys Liebhabern oder Musikerfreunden, die den Weg in die Provinz nicht scheuten, um sich angenehm zu unterhalten, in den Tiefen von Fannys Archiven zu versinken oder in seinen allumfassenden Umarmungen. Sie brachten außer ihren Lüsten stets auch einen guten Tropfen mit, und wenn sie wieder gingen, lag stets ein Leuchten auf ihren Gesichtern. Die Mitte der Welt kann überall sein, zum Beispiel in einem heruntergekommenen Mietshaus in der nordostdeutschen Provinz. Das Foto eines jungen Mannes von etwa zwanzig Jahren hing neben dem Wohnzimmerfenster an einer Wand dieses Hauses. Der Junge wog höchstens siebzig Kilo, doch das war lange her.

      »Was gibt es denn so Dringendes? Du siehst aus, als ob dich etwas bedrückt. Was ist es? Nur heraus mit der Sprache«, ermunterte mich der mächtige Kerl.

      »Ich hab eine Leiche gefunden, Fanny. Er war einer von den Alten, die immer in der Fahrradwerkstatt sitzen, da unten, wo die Inselbahn hält. Letzte Nacht steckte er tot in einem Bauwagen.«

      »In was für einem Wagen?«

      »In einem der alten Bauwagen, die im Kanal versunken sind. Und ich bin mir sicher, jemand hat ihn umgebracht, aber die Polizei will mir nicht zuhören.«

      Fanny rollte zum Plattenspieler, drehte die abgelaufene Scheibe um und legte die Nadel sanft auf die polierte schwarze Oberfläche. Als die Musik einsetzte, rollte er, in majestätische Blässe und besorgtes Schweigen gehüllt, an seinen Platz zurück.

      »Ist Kat immer noch in Kanada?«

      »Zwei Monate ist sie jetzt weg, aber es kommt mir vor, als wären es zwei Jahre.«

      »Du solltest sie unbedingt anrufen.«

      »Ich weiß, aber danach geht es mir jedesmal noch dreckiger als vorher.«

      »Die Liebe macht dich krank.«

      »Der Tod macht mich krank. Dabei hab ich bis heute früh nicht mal den Namen des Mannes gekannt.«

      Die zerhackten Akkorde und dissonanten Läufe beim Duell zwischen Keyboard und Trompete waren genau das, was ich jetzt brauchte in meiner Begierde nach Beruhigung und Vergessen. Leider hielt die Wirkung nicht lange genug an.

      »Den hat einer umgebracht, Fanny. Irgendwer hat seine Leiche in diesen Wagen hineingestopft. Wie sollte er sonst da reingekommen sein?«

      »Du hast eine blühende Phantasie, mein Bester.«

      »Als ich zwölf war, wurde mein Onkel von einem Unbekannten überfahren, nachts auf der Straße vor seinem Haus, wahrscheinlich bei einem illegalen Autorennen. Er hatte keine Chance. Bei seiner Beerdigung haben mein Bruder und ich geschworen, dass wir den Täter finden und fertigmachen. Aber höchstwahrscheinlich lebt er immer noch unerkannt irgendwo auf der Welt. Und das war vor langer Zeit, in einer anderen Stadt. Diesmal ist es in Niewetow passiert. Der, der den alten Mann ertränkt hat, lebt dort völlig unbehelligt, Wand an Wand mit seinen ahnungslosen Nachbarn, und ist mir sicher schon irgendwo begegnet. Und wenn ich ihn erwische …«

      »Übergibst du ihn der Polizei.«

      Fanny beugte sich mit einer wuchtigen Bewegung nach vorn.

      »Es wird dir besser gehen, wenn du mal richtig ausschläfst.«

      Dann las er in meinem Gesicht.

      »Nein«, kommentierte er meine erstarrte Maske, »das wird nichts nützen. Also tu, was du nicht lassen kannst, du rasender Reporter. Ich werd auch diesmal am Fenster sitzen und zusehn, wie die Männer in den Kampf ziehn, um sich gegenseitig zu massakriern.«

      Er legte eine neue Platte auf, ließ die Nadel sanft in die Rille sinken.

      »Ich mag Niewetow nicht. Zu wenig Zivilisten. Und dann diese verfluchten Kriegsschiffe, die im alten Hafen auf neue Besitzer warten.«

      »Niewetow kriegt mich nicht, Fanny. Und auch dieses grässliche Wesen, das sich dort herumtreibt, wird mich nicht kriegen.«

      Der Kerl, der vor fremden Wohnungstüren lauert, dachte ich.

      Fanny


Скачать книгу