Niewetow. Karsten Stegemann

Niewetow - Karsten Stegemann


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Ganz kurz schien er in sich zusammenzusinken, und ein Anflug von Panik lag in seinem Blick.

      »Tu, was du willst.«

      Seine Stimme kam plötzlich von tief unten, tönte aus den bebenden fünfhundert Pfund Fleisch herauf.

      »Aber bring es bitte nicht hierher.«

      »Den Tod kann man nicht einfach irgendwohin mitbringen, Fanny.«

      »Sicher kann man das. Streif dir den Schmutz von den Füßen, bevor du hier eintrittst. Hast du Geld für neue Garderobe? Notfalls geb ich dir welches. Bring deine Schuhe auf Hochglanz! Putz dir regelmäßig die Zähne! Dreh dich nicht um, auch Blicke können töten. Wenn du jemanden anschaust, und der bemerkt, dass du auf deinen Mörder wartest, wird er dir folgen. Komm zu mir, Junge, aber sieh immer nur nach vorn!«

      Als ich unten ankam, war es Nachmittag. Ich stand schwankend im Sonnenlicht auf dem nassen Pflaster vor dem Haus, spürte die Wirkung des Whiskys und schaute hinauf zum ersten Stock. Ich fühlte mich bereit für Niewetow bei jedem Wetter.

      »Edgar Krummnow, ich komme!«, sagte ich laut vor mich hin.

      Doch dann trieb ich mich nur vor der Wache herum und kam mir vor wie ein feiges Großmaul. Mir war nicht klar, wie ich diesen Polizisten da drinnen einzuschätzen hatte, also kämpfte ich draußen auf dem Gehweg mit meiner Unentschlossenheit, bis ich jemanden, der wie Krummnow aussah, hinter den Gardinen im ersten Stock zu bemerken meinte.

      Ich lief davon.

      Mitten in der Nacht erwachte ich von einem Plätschern im Flur.

      Ich sprang zur Tür und riss sie weit auf. Tatsächlich war am Boden eine riesige Pfütze, und Fußspuren von jemandem, der barfuß hierhergekommen war, sowie eine zweite Spur, die wieder hinausführte.

      Ich stellte mir vor, wie jemand hier gestanden hatte, völlig durchnässt hatte er sich gefragt, ob ich wach war, wollte schon klopfen, ging dann aber wieder hinaus zum Kanal.

      Ich folgte ihm. Ich rannte, als könnte ich den Durchnässten einholen, bis ich am Kanal stand.

      Ich blickte hinab auf das ölige Wasser. Ich meinte zu erkennen, wo jemand herausgeklettert war, um durch mitternächtliche Straßen bis zu meinem Quartier zu laufen und dann mit größeren Schritten zurückzurennen und wieder hineinzuspringen. Aber wer wollte in so dreckigem Wasser schwimmen! Jemand, dem Krankheiten und Schmutz völlig gleichgültig waren. Oder jemand, der nächtliche Überfahrten im Dunkeln liebte, aus Langeweile oder aus Lust am Grauen.

      Ich ging langsam am Ufer entlang, starrte angestrengt hinab, als ob gleich irgendetwas die schwarze Fläche durchbrechen würde.

      Das Wasser brandete durch eine offene, verrostete Schleuse hindurch abwechselnd vor und zurück. Eine Herde Seehunde trieb vorüber, aber dann war es nur Tang, unterwegs ins Nirgendwo.

      »Bist du noch da?«, flüsterte ich. »Warum bist du zu mir gekommen? Was willst du von mir?«

      In einer Betonhöhlung unter der wackligen Brücke, drüben auf der anderen Seite, tauchte ein verschmiertes Haarbüschel auf und dann eine ölbedeckte Stirn; Augen starrten zu mir hinüber. Es konnte ein Otter sein oder ein Hund oder ein verirrter Tümmler, der in den Kanal geraten war; eine ganze Zeit lang ragte der Kopf zur Hälfte aus dem Wasser.

      Ich erinnerte mich, was ich über Krokodile im Kongo gelesen hatte, die in Uferausbuchtungen unter der Wasseroberfläche auf ihre Beute lauern, auf irgendjemanden, der so leichtsinnig ist, dort vorüberzuschwimmen.

      Ich sah hinüber auf den dunklen Kopf im Wasser. Er sah zu mir herauf, seine Augen funkelten.

      Ich machte einen raschen Schritt in seine Richtung, so wie man auf etwas Ekelerregendes zuspringt, damit es verschwindet. Der dunkle Kopf ging unter, die Wasseroberfläche kräuselte sich. Er kam nicht mehr zum Vorschein.

      Mich schauderte, als ich zurücklief, die Spur des dunklen Regens entlang bis zu meiner Tür, der er einen Besuch abgestattet hatte. Die Wasserlache war immer noch da, mitten in ihr lag ein Klumpen Seetang. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich den ganzen Weg in Unterhosen zurückgelegt hatte. Ich schnappte nach Luft, blickte verlegen um mich. Dann sprang ich ins Zimmer und verriegelte die Tür.

      Morgen, dachte ich, werde ich Edgar Krummnow meine Fäuste zeigen, in der rechten das Flickzeug, in der linken den Klumpen Seetang. Aber nicht auf dem Revier würde ich das tun, der Geruch von Amtsstuben ließ mir, ebenso wie der von Krankenhausfluren, jedes Mal die Knie weich werden. Krummnow musste schließlich irgendwo wohnen.

      7

      In Niewetow brach damals die Sonne nie vor Mittag durch den Nebel, und oft schaffte sie es erst, wenn sie bereits im Begriff war, im Westen wieder am Horizont zu verschwinden. Wenn die Nordweststürme mit voller Wucht auf die Küste trafen, erklang fortwährend das verlorene Tuten des Nebelhorns draußen auf dem Strom, wieder und wieder, bis man zu spüren meinte, wie sich die Leichen der ertrunkenen Fischer auf dem Meeresgrund zu regen beginnen.

      Manchmal, wenn das Horn mitten in der Nacht einsetzt, steigt ein amphibisches Ungeheuer in dir empor. Irgendwann wird es, wie alle schlauen Tiere voller Sehnsucht nach Sonne, Richtung Süden schwimmen. Du bleibst verlassen zurück bei einer sturmumtosten Düne, das Blatt in deiner Maschine ist leer, dein Konto ebenfalls und das Bett neben dir zur Hälfte kalt. Du rechnest damit, dass das Unterwasserwesen eines Nachts, während du schläfst, aus den Fluten auftaucht, um dich zu holen. Um es loszuwerden, stehst du um drei Uhr morgens auf und wanderst durch die Gegend.

      Wo die Macht der Stürme und der Albträume zu enden schien, lag im Inselinneren ein Garten, wie ich ihn dort nicht vermutet hätte. Dass in dem Garten ein Bungalow stand, war von der Straße aus kaum zu erkennen, er verschwand hinter Schilf und anderen mannshohen Gräsern. Auf dem Briefkasten draußen am Zaun stand kein Name, eine Klingel gab es nicht.

      Und nun?, dachte ich an der Gartenpforte. Soll ich etwa seinen Namen in diese Wildnis hineinrufen?

      Doch Krummnow kam mir zuvor.

      »Sind Sie es wirklich?«

      Er kam den Gartenweg entlang auf mich zu.

      »Ja, ich bin’s schon wieder.«

      »Wollen Sie sich bei uns bewerben?«, nuschelte Krummnow. »Dann sollten Sie diesmal mit Originellerem aufwarten.«

      »Falls Sie mir mal zuhören würden, vielleicht.«

      Krummnow warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

      »Hinter mir auf der Fähre war der Mann«, rief ich, »der den Alten in den Bauwagen gestopft hat.«

      »Sie brauchen nicht zu schreien. Woher wissen Sie das?«

      Meine Fäuste in den Manteltaschen begannen zu schmerzen.

      »Ich hab gespürt, wie er die Hände nach mir ausstreckte. Er wollte, dass ich mich umdrehe, dass ich ihn anschaue. Er scheint einer jener Mörder zu sein, die einen Zeugen brauchen.«

      »Sie hätten herausbekommen können, wer er ist, indem Sie sich einfach umdrehen.«

      »Betrunkene ignoriert man am besten, sonst setzen sie sich zu einem und man wird sie nicht mehr los.«

      »Ist das so?«

      Krummnow begann, sich eine Zigarette zu drehen.

      »Wenn Sie seine Stimme gehört hätten, würden Sie mir glauben. Er klang wie aus der Tiefe des Grabes.«

      Krummnow zündete sich seine Zigarette an und blickte mir durch den Rauch hindurch ins Gesicht.

      »Sie hätten diese Stimme hören sollen; ich bin mir sicher, ich hab Recht mit meinem Gefühl.«

      Krummnow drehte die angerauchte Zigarette zwischen den Fingern, als könnte er sich nicht zum nächsten Zug entschließen. »Sie haben Gefühle, und wir halten uns an Fakten.«

      »Sie werden nicht versuchen, den alten Mann zu retten?«

      Ich


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