Abenteuer des Glaubens. Hubert Ettl

Abenteuer des Glaubens - Hubert Ettl


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sie bisher in der Menschheitsgeschichte nie gab. Die Menschen haben sich viel zu viel getraut. Das haben wir uns lange nicht eingestanden, und als es warnende Stimmen gab vor vierzig Jahren, hat man sie kaum ernstgenommen. Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut: Das trifft auf viele halbherzige politische und wirtschaftliche Entscheidungen und Maßnahmen zu, um der Menschheit am Scheideweg eine menschenwürdige Zukunft zu sichern. Aber das Nicht-trauen kennzeichnet auch das Bewusstsein und Handeln jedes Einzelnen von uns.

      Das Christentum hat bei dieser Entwicklung kaum eine mäßigende Rolle gespielt. Manche Historiker und Gesellschaftsforscher sind sogar der Meinung, das Christentum sei der Nährboden für diesen Hochmut, diese menschliche Hybris gewesen. Die heutige Krise der Menschheit muss das Christentum ins Mark treffen: Inwieweit macht das Ebenbild Gottes, der Mensch, in seiner Freiheit der Schöpfung den Garaus?

      Du Messias, dichtet Kurt Marti, der langjährige evangelische Pfarrer und einer der bedeutendsten Lyriker der Schweiz, „sollen wir die letzten / oder die vorletzten menschen gewesen sein / auf diesem planeten? // wozu dann aber / willst du noch wieder kommen? / wozu – wenn dein reich der freiheit der liebe / keine menschen vorfinden wird?“ Willst du dann ein Messias sein „der gebirge der meere der winde nur noch? / archäologe des himmels vielleicht / auf zu später suche / nach spuren / des dann erloschenen ebenbilds gottes?“ Kurt Marti (1921–2017) war ein empfindsamer Seismograph unserer Zeit, besinnlich und kämpferisch zugleich, ein Warner. Ein Christ, der seinen Glauben, seine Spiritualität immer wieder befragte vor dem Hintergrund schreiender Ungerechtigkeiten in unserer Welt des Unfriedens, der Gewalt und vor allem auch der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. In einem an das große christliche Gebet, dem „Vater unser“, angelehnten Gedicht bittet er: „und führe uns nicht / wohin wir wie blind / uns drängen / in die do-it-your-self-apokalypse / sondern erlöse uns / von fatalität und sachzwang / damit das leben / das du geschaffen / bleibe auf diesem kleinen / bisher unbegreiflich erwählten / planeten“.1

      Ob die Christen nicht nur als Einzelne, sondern in ihrer Mehrheit und vielleicht sogar als große Institutionen, also als Kirchen, dieser notwendigen Wende Antrieb und Hilfe, Denkanstoß und Licht sein können, wird sich zeigen müssen. Ich hoffe es. Aber wegen dieser Aufgabe, wegen dieser gesellschaftlichen Funktion allein werden die Wenigsten das Abenteuer des Glaubens eingehen. Für die Erhaltung der Lebensgrundlagen kann man sich auch als säkularer Humanist engagieren.

      Im Kern sind es zwei andere Gründe, Erfahrungen, Motivationen, die einen bestärken, weiter oder wieder an eine geistige Kraft jenseits der materiellen Welt zu glauben. Neben den persönlichen Erfahrungen und mit ihnen verbunden ist die Gottsuche eine Sinn- und Wahrheitssuche, die einen immer wieder packt und nicht mehr loslässt.

      Erkundungen zum Glauben sind heute Erkundungen in unwegsamem Gelände. Stolpern und Innehalten gehören zum Weg des Glaubens. Und immer wieder der Mut zu diesem Abenteuer in unserer modernen, säkularen Welt, so dass man seinen Glauben mit Humor bekennen kann: Aber dürfen haben wir uns schon getraut.

       Staunen und glauben

      „Einer jener Donnerstage gegen Einbruch der Dunkelheit / in der Josephskirche mit 59 Registern der Orgel, // der Alte mit dem langen weißen Bart, der Alte mit / dem böhmischen Akzent übt seine D-Moll-Fuge, / (…) an einem jener Donnerstage, die Leere im Raum, der / Resonanzkörper, Leib Josephs, Weihrauch, verstehst // du die entzündeten Kerzen unter dem Seitenaltar Marias / mit dem wachsschimmernden Gesicht, als wolle sie schmelzen, / (…) da ist es wieder, das verloren geglaubte Staunen“.1

      Der Münchner Dichter Jürgen Bulla fängt jenen Augenblick seines Staunens poetisch ein, von dem er glaubt, es sei ihm verloren gegangen. Ja, haben wir Heutigen es mit dem religiösen Glauben nicht deswegen oft so schwer, weil wir uns zu wenig auf das Staunen als einen Kern des Glaubens einlassen?

      Wir wollen alles mit dem Verstand erklären. Wir wollen die Welt mit genauen Begriffen erfassen. Messbar, berechenbar soll unsere Welt sein. Dieser moderne Blick und Umgang mit der Welt ist uns schon in Fleisch und Blut übergegangen. Zugreifen, eingreifen, herstellen, beherrschen – wir sind fasziniert vom technischen Zugriff auf die Welt. Fortschritt und Wohlstand hat dieser neue Blick seit den Zeiten eines Kepler, Kopernikus und Galilei der Menschheit gebracht. Zu diesem modernen Weltbezug gehört die Frage nach dem Nutzen. Was nützt es uns? Was bringt es mir? Und wenn der Nutzen nicht auszumachen ist, ist es dann wertlos?2

      Dieses Zugreifen und Vermessen, dieses Begreifen und Erklären, verbunden mit der Frage nach dem Nutzen, würden wir allzu gern auch auf den Glauben anwenden. Ist da noch etwas Geistiges als Allererstes und Allerletztes neben und vor der materiellen Welt? Ein Jenseits hinter dem Diesseits der Materie? Etwas Göttliches? Ein Gott?

      Aber unser moderner Zugriff muss hier scheitern. Ob Gott existiert, lässt sich wissenschaftlich nicht beweisen. Gott ist unserem besitzergreifenden, wissenden Zugriff entzogen. Er bleibt ein Geheimnis. Um an ihn glauben zu können, müssen wir aus unserem modernen Weltsicht-Käfig herausfliegen. Aber wie? Und wohin?

      Das Staunen kann uns helfen. Natürlich kann auch jemand staunen, der sich nicht als religiöser Mensch versteht. Es ist eine menschliche Grundhaltung. Wir staunen über die Natur, z.B. wenn wir hoch oben auf einem Gipfel in den Alpen stehen – diese Weite, diese Erhabenheit der Berge! Wir staunen über technische Erfindungen. Wir staunen über unsere Mitmenschen, und oft auch über uns selbst.

      Wir staunen, wenn wir Musik hören, Bücher lesen, wenn wir Kunstwerke betrachten. Es sind Bereiche, in denen der einfache Weltzugriff des Vermessens und Erklärens nicht funktioniert. Da ist man gezwungen, diesen Käfig des technischen Weltzugriffs zu verlassen. Es ist eine andere Weltsicht, als diejenige, die ich vorher als unsere moderne, zugreifende, zupackende kurz beschrieben habe, die immer auch gleich nach dem Nutzen fragt.

      In der Kunst, ob Literatur, Malerei, Film oder Musik, sind wir zuerst passiv: Wir werden angesprochen, lassen uns mitnehmen, lassen uns hineinziehen. Wir öffnen uns und lassen etwas auf uns wirken, lassen uns berühren und ergreifen. Nicht wir ergreifen etwas, sondern wir werden ergriffen. Und in diesem sich Öffnen erfahren wir Neues und Schönes. Ein tiefes Gefühl von Schönheit, Harmonie, Frieden, von Liebe, von Sehnsucht und Hoffnung? Wir ahnen und staunen. „Da ist es wieder, das verloren geglaubte Staunen“.

      Vor einiger Zeit bin ich abends mit einem Freund zusammengesessen. Er ist Musiker und ein Liebhaber klassischer Musik. Da sagt er zu mir: „Weißt Du, wenn ich spät abends noch eine Beethoven-Symphonie höre oder Klaviersonaten von Mozart, dann kann es geschehen, dass ich mich wie im Himmel fühle.“ Was ist das, sich wie im Himmel fühlen? Ganz erfüllt von der Schönheit der Musik und von den Tiefen der Musik? Hineingehoben in eine andere Welt? Glücklich?

      Die beiden Politiker Peter Ramsauer von der CSU und Otto Schily, zuerst bei den GRÜNEN, dann bei der SPD haben sich vor einiger Zeit für das SZ-Magazin über ihre Liebe zur Musik unterhalten. „Sie können Musik nicht erklären“, so der ehemalige Bundesinnenminister Schily, und er fährt fort: „Genau wie man ein Bild nicht erklären kann. Musik ist auch die spirituellste aller Künste. Wenn Sie den Himmel erreichen wollen, kommen Sie ihm mit der Musik am nächsten.“3 Was wären die Gottesdienste ohne Musik? Die Musik bringt uns dem Himmel näher, sie öffnet uns selbst und auch den Himmel.

      Die Natur, die Welt, die Menschen lassen uns staunen wie auch die Musik, die Künste und die Poesie. Diese menschliche Erfahrung ist eine Grundfeste unserer Spiritualität, vielleicht heute mehr als früher. Man hat einerseits in den herrlichen Kirchenräumen, bei der Kirchenmusik, in den Liturgien auf Sinnlichkeit und Schönheit gesetzt, aber waren und sind die Kirchen nicht oft der Gefahr erlegen, den Glauben als einen Besitz anzubieten, den man nur gehorsam übernehmen müsse? Zumindest war dies in meiner Kinder- und Jugendzeit so. Ist die Frage nach dem Jenseitigen, dem Heiligen, dem Letzten, also dem Göttlichen nicht allzu sehr zementiert in ein Gebäude von Glaubensinhalten, Lehrsätzen und Dogmen? Tritt da nicht das Staunen, Ahnen und Suchen weit zurück hinter das Bekennen von Glaubenssätzen?

      Aber der Glaube ist kein Besitz. Der Glaube ist eher ein Weg, den wir ahnend und staunend, fragend und


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