Abenteuer des Glaubens. Hubert Ettl
auch wenn es ein suchender und zweifelnder Glaube ist – doch sicher, dass ihn eine jenseitige Kraft anweht, berührt. Dass wir berührt werden, manchmal auch ergriffen. Dass dieser Gott ein Gegenüber ist, mit dem wir in Beziehung stehen.
Ich selbst habe mich in den letzten zwanzig Jahren beim Zurückkommen in den christlichen Glauben oft gewundert über mich selbst, wie mich der Gottesdienst oder andere Liturgien berührt und ergriffen haben – ein Lied, ein Gebet, ein Satz im Evangelium, ein Gedanke in einer Predigt. Und ich habe mich gefragt: Wie kann das mir, einem kritischnachdenklichen Menschen, passieren? Es sind Erfahrungen, die man, wenn man nicht ganz Herz und Seele verschließt, nicht überspringen kann. Diese Erfahrungen des Staunens und Ahnens werden immer wieder zum Antrieb für neues Suchen und Nachdenken.
„Das verloren geglaubte Staunen“ ist auch da, wenn man sich wieder ins Gebet einlassen kann. „Stammeln auch wir, die die Erde gebar“, wie es in einem meiner Lieblingskirchenlieder heißt. Es ist das „Ehre, Ehre sei Gott in der Höhe!“, komponiert 1827 von Franz Schubert, getextet von Johann Philipp Neumann. So wird unser Staunen zur Quelle des Lobpreises Gottes: „Staunen nur kann ich und staunend mich freun, Vater der Welten, doch stimm ich mit ein: ‚Ehre sei Gott in der Höhe!‘“
Erfahrungen, die hinüberweisen
Man muss nicht vom Pferd fallen. Nein, wirklich nicht. Oft bin ich in den letzten Jahren bei Gesprächen gefragt worden, ob ich denn ein Saulus-Paulus-Erlebnis gehabt hätte, das mich zum christlichen Glauben bekehrt habe. Es ist dann vermutlich etwas enttäuschend für die Fragenden, wenn ich es verneine und erkläre, es sei ein langer Prozess gewesen, ein allmähliches Löchrigwerden der säkularen Weltanschauung, eines Glaubens ohne Gott. Also kein radikales, einmaliges Erlebnis, kein Schlag, der einen niederwirft und bekehrt wieder aufstehen lässt. Also keine Sensation. Schade, wird sich dann der Eine oder die Andere denken.
Saulus aus Tarsus in Kleinasien war ein frommer Jude, der seine religiöse Bildung zum Pharisäer in Jerusalem erfuhr, vielleicht schon in den Jahren, als Jesus öffentlich auftrat und dann am Kreuz hingerichtet wurde. Saulus hasste die ersten Christen, die zunächst als jüdische Sekte angesehen wurden, und er bekämpfte sie bis aufs Blut. Dies darf man wörtlich verstehen. Saulus fand die Rollkommandos gut und war dabei, wenn sie die gotteslästerlichen Jesusanhänger verprügelten und auspeitschten. Saulus soll auch dabei gewesen sein, als Stephanus, einer aus der christlichen Urgemeinde, von rechtgläubigen Juden – sie hielten sich zumindest für solche – gesteinigt wurde.
Eines Tages brach er – möglicherweise als Anführer – mit ein paar Gleichgesinnten von Jerusalem nach Damaskus auf, wo sich auch so eine Gruppe von Jesusleuten anschickte, den alten Glauben infrage zu stellen. Sie zogen los, um an ihnen ein Exempel zu statuieren. Da passiert es: Ein gleißend helles Licht blendet ihn, er fällt vom Pferd. Eine Stimme fragt ihn, warum er, Paulus, ihn verfolge. Geblendet, fast erschlagen ist er. Seine Freunde müssen ihn stützen. Saulus, der sich von nun an Paulus nennt, ist überzeugt, dass Jesus ihn angesprochen hat. Paulus wird zum „ersten Christen“ (Alois Prinz), der die Botschaft Jesu mit Leidenschaft im damaligen römischen Reich verkündet.
Vermutlich trifft es auch heute immer wieder Menschen urplötzlich und vehement. Man hört und liest von Erlebnissen, die dem Leben dieser Menschen schlagartig eine Wende geben, eine Wende hin zum religiösen Glauben. Aber wie gesagt, man muss nicht vom Pferd fallen. Es können viele kleinere Erlebnisse sein, die – verbunden mit Nachdenken, Lesen und Auseinandersetzung – mehr und mehr zu der Überzeugung führen, dass neben der sichtbaren, greifbaren Welt eine unsichtbare, geheimnisvolle Kraft existiert. Ein göttlicher Geist, ein Gott.
Ich erinnere mich noch gut an den Hl. Abend 1984. Ein ganz schwieriges Jahr ging zu Ende: Meine Eltern waren beide im Frühsommer schwer krank geworden. Sie lagen im Krankenhaus unseres Heimatortes Nittenau, zusammen in einem Zimmer, und man wusste nicht, wer zuerst sterben würde. Zur gleichen Zeit war meine Frau hochschwanger. Die Mutter starb zuerst. Knapp vier Wochen später wurde unsere zweite Tochter geboren. Wir waren froh, sie war gesund. Die letzten Wochen der Schwangerschaft waren nicht einfach gewesen für meine Frau – und wohl auch für die Kleine – in diesem ganzen Durcheinander der Gefühle und Anforderungen. Ich holte zusammen mit der fünfjährigen Tochter meine Frau und unser Baby aus dem Krankenhaus heim. Am nächsten Tag brachte meine Schwester den schwer krebskranken Vater, um die letzten Wochen bei uns zu verbringen. Wir hatten in unserem neuen Haus, das noch nicht ganz fertig war, eine Einliegerwohnung für meine Eltern gebaut und ich hatte nach dem Tod der Mutter dem Vater auf seine Bitte hin versprochen, ihn aus dem Krankenhaus zu holen. Er starb zwei Monate später bei uns daheim.
Als es dunkel geworden war an jenem Hl. Abend 1984, machte ich mit der älteren Tochter noch einen Spaziergang, so dass meine Frau den Christbaum schmücken konnte. Ich führte sie an der Hand. Es war ein klarer Winterabend, der Himmel voller Sterne. Plötzlich fragte sie mich: „Papa, wo sind denn jetzt Oma und Opa?“ Da brachte ich es nicht übers Herz, ihr meine materialistische Weltanschauung als Antwort zu geben. „Ich weiß es nicht. Aber vielleicht sind sie dort oben im Himmel, bei den leuchtenden Sternen.“ Und wir blickten beide hinauf. „Und sie sehen uns“, meinte sie, hoffte sie. Dann kehrten wir um und gingen nach Hause. Das Christkind konnte kommen.
Ich habe später oft über diesen unseren Spaziergang nachgedacht, vor allem auch über meine Antwort. Gewiss, meinen kämpferischen Atheismus hatte ich da schon hinter mir gelassen, aber religiös-gläubig war ich noch lange nicht. Ganz materialistisch hätte ich antworten können: Sie verfaulen in ihrem Grab, das du mir vor kurzem so schön gemalt hast. Die Würmer fressen sie auf. Da hätte sie sicherlich geweint. Oder etwas mitfühlender: Sie gehen wieder in die Natur ein und dann wächst etwas Neues daraus, schöne Blumen, Sträucher, ein großer Baum. Oder: Sie sind nicht tot, denn wir denken an sie. Denn wir haben sie noch gern. Du erinnerst dich an sie, wie sie ausgesehen haben, vielleicht auch, was sie zu dir gesagt haben. Sie sind nicht ganz tot, solange wir uns an sie erinnern. Aber ich war darüber hinausgegangen, ich hatte ihr meinen alten Glauben angeboten. Als Hoffnung und Trost.
Geburt und Tod sind seit Alters die Ereignisse im menschlichen Leben, die auf Jenseitiges verweisen. Dort, wo die Wissenschaftler vom Homo sapiens sprechen, also dem Menschen, der sich schon deutlich von seinen menschenaffenartigen Vorfahren unterscheidet, findet man z.B. die Aufbewahrung von Schädeln Verstorbener, also schon vor 500 000 Jahren. Bei Ausgrabungen in Israel wurde eines der ältesten Gräber überhaupt entdeckt, es soll über 150 000 Jahre alt sein. Die Angst vor und die Verehrung der verstorbenen Ahnen, die weit in die Menschheitsgeschichte zurückreichen, wären unsinnig, wenn man nicht an ein Weiterleben geglaubt hätte. Bestattungsriten und -zeremonien gehören zum ältesten Kult der Menschheit.1
Tod und Geburt sind auch heute radikale Erlebnisse. Erlebnisse, die an die Wurzel unseres Seins gehen, an unsere Existenz rühren. Diese Erfahrungen können uns erschüttern und sprengen das Alltagsdasein wie auch andere starke, außergewöhnliche Erlebnisse, z.B. Krankheiten oder das Überleben großer Gefahren. Philosophen, Theologen und Wissenschaftler sprechen von transzendenten Erfahrungen.2 Erfahrungen, die den Alltag mehr oder weniger überschreiten und auf ein Jenseitiges, Heiliges, Göttliches verweisen. Verweisen können, oder Fragen danach aufwerfen. Es können kleine und große Erfahrungen des Hinüber sein, kleine und große Transzendenzen. Tod und Geburt in familiärer Nähe gehören gewiss zu den großen Hinüber-Erfahrungen.
Welche Gefühle, wenn ein Kind zur Welt kommt! Nicht nur für die Mütter, auch die Väter, denn sie sind heute meist bei der Entbindung dabei. Die Schmerzen, die Dramatik, und dann ist es da. Dieses Glück! Bei mir war dieses Glücksgefühl beide Male mit einem Gefühl großer Dankbarkeit verbunden. Dankbarkeit gegenüber meiner Frau, der Hebamme, dem Arzt. Aber es war eine größere, umfassendere Dankbarkeit. Irgendwie unbestimmbar. Glück gehabt, alles gut gegangen. Dankbar dem Schicksal? Aber was soll das Schicksal sein? Alle großen und kleinen Ursachen, Lebensumstände, die zusammenwirken? Irgendwie fehlte etwas, dem ich dankbar sein wollte. Der große Adressat fehlte mir damals. Eines ist mir heute ganz gewiss: Diese großen Erfahrungen haben meine Zweifel am Unglauben befeuert. Von heute aus gesehen: Tod und Geburt waren und sind große Wegweiser in den Glauben. Aber