Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich. Martin Schölkopf
finanzieller Hilfebedürftigkeit hilft der Staat.
Zur Abbildung der Realität ist daher die folgende, alternative Systematisierung der Gesundheitssysteme in sechs Ländergruppen besser geeignet:
1.Die erste Gruppe umfasst Länder, die ihre Gesundheitsversorgung auf einen nationalen Gesundheitsdienst stützen. Dazu gehören neben Großbritannien – dem „Erfinder“ dieses Systems – Irland und Portugal. Zentrales Kennzeichen dieser Länder ist, dass der öffentliche Gesundheitsdienst dort jeweils vom Zentralstaat direkt gesteuert wird. Die Gesundheitseinrichtungen vor Ort sind damit faktisch Teil der Staatsverwaltung. Griechenland ist in dieser Gruppe insofern ein Sonderfall, als neben dem der gesamten Bevölkerung offen stehenden staatlichen Gesundheitsdienst noch ein Sozialversicherungssystem für den Krankheitsfall existiert.
2.Eine zweite Gruppe besteht aus Ländern, die ihren öffentlichen Gesundheitsdienst auf regionaler Ebene organisiert haben. Dort ist nicht der Zentralstaat, sondern die Regionen oder Provinzen für die Gesundheitsversorgung verantwortlich. Das gilt für Italien, Spanien sowie für Australien, Neuseeland und Kanada.
3.Die dritte Gruppe organisiert ihr Gesundheitswesen ebenfalls über einen öffentlichen Gesundheitsdienst. Allerdings sind dafür die Landkreise, Städte und Gemeinden verantwortlich. Dies trifft auf die vier skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland zu.
4.Eine vierte Gruppe stützt die Gesundheitsversorgung auf Sozialversicherungssysteme, die der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung ähnlich sind, also einkommensbezogene Beiträge verlangen. Neben Deutschland zählen zu dieser Gruppe Frankreich, Belgien, Luxemburg, Österreich und Japan. Die Leistungserbringung erfolgt dort jeweils durch unabhängige kommunale, freigemeinnützige oder privatwirtschaftliche Anbieter.
5.Letzteres trifft mit den Niederlanden und der Schweiz auch auf die fünfte Ländergruppe zu. Die dortigen Gesundheitssysteme basieren zwar auf (Sozial-)Versicherungssystemen, die Versicherungsbeiträge werden aber in Form von Kopfpauschalen berechnet.
6.Die USA schließlich lassen sich nur schwer in eine der oben aufgeführten Gruppen einordnen. Bis 2014 beschränkte sich die staatliche Verantwortung auf öffentliche Gesundheitsdienste für alte und arme Menschen. Unter der Obama-Regierung gab es dann in der Folge durchaus erfolgreiche Bestrebungen, den Versicherungsschutz auf alle (bzw. einen Großteil der) Einwohner auszuweiten. Rund 20 Millionen weitere Amerikanerinnen und Amerikaner erhielten seit 2014 Versicherungsschutz im Krankheitsfall. Die seit Anfang 2017 regierende Administration unter Präsident Trump hebelte 2018 die durch „Obama-Care“ eingeführte Versicherungspflicht wieder aus. Zuletzt wurde die Reform der demokratischen Regierung 2019 von einem US-Bundesgericht in Texas als verfassungswidrig eingestuft; eine erneute Entscheidung des Obersten Gerichtshof zu „Obama-Care“ wird in 2020 erwartet.
Wie alle Typologien ist auch diese Typologie der Gesundheitssysteme vereinfachend und wird der Komplexität der Gesundheitsversorgung in den untersuchten Ländern nicht vollständig gerecht. Sie erfasst nicht zuletzt die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hinzugekommenen Länder Mittel- und Osteuropas, deren Gesundheitswesen oft bereits mehrfach Systemumstellungen erdulden mussten, nur unzureichend; deshalb wird auf eine Einordnung dieser Länder hier auch verzichtet. Gleichwohl kann diese Typologie als Ausgangspunkt für die weiteren Darstellungen und Analysen dienen und das Verständnis über grundlegende Differenzen in der Gesundheitsversorgung zwischen verschiedenen Ländern fördern. Außerdem hilft sie dem Forscher, der in der Detailanalyse eines Gesundheitswesens manchmal den Überblick über das große Ganze zu verlieren droht.
1.2 Die Entstehung und Ausweitung der gesetzlichen Absicherung im Krankheitsfall
In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird die Einführung einer öffentlichen Absicherung im Krankheitsfall insbesondere mit dem durch die Industrialisierung entstandenen neuen und wachsenden Problemdruck – Verschärfung sozialer Notlagen im Zuge des Bevölkerungswachstums im 19. Jahrhundert bei gleichzeitiger Auflösung tradierter Familienstrukturen – und der politischen Mobilisierung der Arbeiterschaft erklärt. Nicht alle Industrieländer schufen ihre Gesundheitssysteme aber zur gleichen Zeit, und nicht alle Systeme gewährleisten das gleiche Absicherungsniveau. Gesetzliche Sicherungssysteme für den Krankheitsfall wurden vielmehr zu jeweils sehr unterschiedlichen Zeitpunkten eingeführt.
Auf die neuen politischen Herausforderungen reagierten Länder mit autoritärer politischer Ordnung früher als andere: Ein gesetzliches System zur Absicherung im Krankheitsfall wurde zunächst in Deutschland, dann in Italien, Österreich, Schweden, Dänemark und Belgien errichtet (vgl. Tab. 2). Obwohl sie damals im europäischen Vergleich zu den Nachzüglern der sozioökonomischen Entwicklung gehörten, führten also die europäischen autoritären Monarchien, die keine oder nur sehr eingeschränkte Befugnisse der gewählten Parlamente kannten, gesetzliche Absicherungen im Krankheitsfall früher ein als die parlamentarischen Demokratien.
Tab. 2Einführungszeitpunkt der ersten gesetzlichen Krankenversicherungen. Quellen: Alber (1987: 139), Schmidt (1998: 180), eigene Recherchen (s. Tab. 3). Jahr der Einführung der ersten, nicht notwendigerweise umfassenden, obligatorischen bzw. freiwilligen, staatlich subventionierten Krankenversicherung. Nicht berücksichtigt sind ältere soziale Sicherungssysteme für militärische Berufsstände.
Land | Einführungsjahr | Land | Einführungsjahr |
Deutschland | 1883 | Schweiz | 1911 |
Italien | 1886 | Griechenland | 1922 |
Österreich | 1888 | Japan | 1922 |
Schweden | 1891 | Niederlande | 1929 |
Dänemark | 1892 | Neuseeland | 1938 |
Belgien | 1894 | Spanien | 1942 |
Frankreich | 1898 | Portugal | 1946 |
Luxemburg | 1901 | Australien | 1946 |
Norwegen | 1909 | Kanada | 1961 |
Großbritannien | 1911 | Finnland | 1963 |
Irland | 1911 | USA | 1965 |
Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Schweden und die Schweiz starteten dabei zunächst mit freiwilligen, staatlich subventionierten Programmen, die für längere Zeit beibehalten wurden und nicht selten auch einen größeren