Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich. Martin Schölkopf
auf bestimmte Bevölkerungsgruppen bezogenen Pflichtversicherung. Nur Finnland führte von Beginn an – allerdings erst im Jahr 1963 – eine Volksversicherung bzw. einen öffentlichen Gesundheitsdienst ein (vgl. Alber 1987: 50). Das wichtigste Ziel der Krankenversicherungen, unabhängig davon, ob es sich um Pflichtversicherungen oder um freiwillige, staatlich subventionierte Versicherungen handelte, bestand anfangs im Ausgleich des mit einer Krankheit verbundenen Einkommensverlustes. Erst später wurden die Geldleistungen zunehmend durch die Gewährleistung medizinischer Sachleistungen ergänzt.
Einmal eingeführt, wurden die gesetzlichen Krankenversicherungen kontinuierlich ausgeweitet; sie bezogen daher einen immer größeren Teil der Bevölkerung in die Absicherung ein. Denn die Einführung der öffentlichen Absicherung im Krankheitsfall für bestimmte Bevölkerungsgruppen bot gleichzeitig eine Plattform für die politische Forderung nach Ausdehnung durch den Gesetzgeber – mit der Folge des zunehmenden Einbezugs weiterer Bevölkerungsteile (vgl. zum Folgenden Alber 1987: 54–55 sowie Tab. 3). Dabei wurde der erfasste Personenkreis i.d.R. zunächst auf weitere Gruppen abhängig Beschäftigter (z.B. Angestellte) ausgeweitet. Dies erfolgte zum Teil durch Abschaffung von Einkommensgrenzen, deren Überschreitung vorher von der Versicherungspflicht befreit hatte, zum Teil durch Aufnahme weiterer beruflicher Statusgruppen. Dem folgte dann meist die Ausdehnung der medizinischen Versorgungsleistungen auf Familienangehörige der Versicherten; die meisten Länder Westeuropas schufen diesen Schutz zwischen 1930 und 1946. Nur die norwegische Pflichtversicherung hatte Sachleistungen für Angehörige bereits von Beginn an eingeführt.
In der Regel ein weiteres Jahrzehnt später – erstmals in Deutschland im Jahr 1941 – erfolgte die Ausweitung der Absicherung im Krankheitsfall auf die Rentner. In Westeuropa war diese Ausweitung erst mit der Einführung der finnischen Volksversicherung im Jahr 1963 allgemein umgesetzt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden schließlich bestimmte Gruppen von Selbstständigen in die Pflichtversicherungen einbezogen. Als das hier am längsten zögernde Deutschland 1971 die Versicherungspflicht auf Landwirte ausdehnte, hatten mit Ausnahme der bis Mitte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts an der freiwilligen Versicherung festhaltenden Schweiz alle Länder zumindest einige Kategorien von Selbstständigen in die staatliche Zwangsversicherung integriert. Nur in den Ländern mit Volksversicherungen bzw. öffentlichem Gesundheitsdienst wurden alle Selbstständigen auf einen Schlag in die Versicherungspflicht einbezogen. Die übrigen Zwangsversicherungen dehnten ihren Anwendungsbereich dagegen sukzessive auf zusätzliche Kategorien selbstständig Erwerbstätiger aus, sodass in diesen Ländern noch lange Zeit einige Gruppen von Selbstständigen von der Versicherungspflicht befreit blieben. Ausnahmen existieren nur noch in Deutschland bzw. in Österreich, wo Selbstständige nicht versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung sind bzw. sich davon befreien lassen können.
Tab. 3Zeitpunkte der Ausweitung der gesetzlichen Absicherung im Krankheitsfall. Quelle: Angaben für Westeuropa ohne Spanien und Portugal aus Alber (1987: 232–235); einzelne Angaben für die Schweiz und die Niederlande sowie sämtliche Informationen zu den Ländern Japan, Kanada, Australien, Neuseeland, Spanien und Portugal wurden vom Verfasser ergänzt.
Land | Jahr | Einführungs- bzw. Änderungsgesetz |
1888 | Pflichtversicherung mit Einkommensgrenzen für Arbeiter und Angestellte | |
1926 | Familienangehörige und Rentner in der Angestelltenversicherung | |
1928 | Landarbeiter | |
Österreich | 1941 | Familienangehörige und Rentner in der Arbeiterversicherung |
1955 | leitende Angestellte | |
1965 | Landwirte | |
1966 | Selbstständige in der Industrie (halbobligatorisch) | |
1894 | Subventionierung freiwilliger Versicherung | |
Belgien | 1944 | Pflichtversicherung abhängig Beschäftigter, Ausweitung auf Rentner und Familienangehörige |
1963 | Ausdehnung auf Selbstständige | |
1892 | Subventionierung freiwilliger Versicherung | |
1933 | halbobligatorische Versicherung | |
Dänemark | 1960 | Ausdehnung der halbobligatorischen Versicherung auf alle Bürger unter 16 |
1971 | öffentlicher Gesundheitsdienst | |
1883 | Pflichtversicherung für Arbeiter (und Angestellte unter Einkommensgrenze) | |
1911 | Landarbeiter | |
Deutschland | 1930 | Mitversicherung von Familienangehörigen als Regelleistung |
1941 | Rentner | |
1971 | Landwirte | |
2009 | allgemeine Versicherungspflicht | |
Finnland | 1963 | öffentlicher Gesundheitsdienst |
1898 | Subventionierung freiwilliger Versicherung | |
1919 | Übernahme der Pflichtversicherung in Elsass-Lothringen | |
1930 | Pflichtversicherung mit Einkommensgrenzen | |
Frankreich | 1942 | alle Arbeiter ohne Einkommensgrenzen |
1946 | Rentner | |
1961 | Landwirte | |
1966 | Selbstständige außerhalb der Landwirtschaft | |
bis zur Unabhängigkeit: britische Gesetze | ||
Irland | 1952 | Versicherungspflicht für abhängig Beschäftigte unter Einkommensgrenze |
1886 | Subventionierung freiwilliger Versicherung | |
1928 | halbobligatorische Versicherung (durch kollektive Arbeitsverträge) | |
1939 | Mitversicherung von Familienangehörigen | |
Italien | 1943 | Pflichtversicherung für Industriearbeiter |
1954 | Landwirte | |
1955 | Rentner | |
1956 | selbstständige Handwerker | |
1901 | Pflichtversicherung für Industriebeschäftigte mit Einkommensgrenze | |
1944 | Rentner | |
Luxemburg | 1951 | Ausweitung durch Aufhebung der Einkommensgrenzen |
1952 | Selbstständige in Industrie und Handel, Freiberufler | |
1962 | Landwirte | |
1929 | Pflichtversicherung für Geldleistungen mit Einkommensgrenze | |
1941 | Ausweitung auf Sachleistungen und Familienangehörige | |
Niederlande | 1951 | Rentner |
1967 | Volksversicherung für schwere Krankheiten | |
2006 | allgemeine Versicherungspflicht | |
1909 | Pflichtversicherung mit Einkommensgrenze, Mitversicherung Familienangehöriger | |
Norwegen | 1935 | selbstständige Fischer |
1953 | Ausweitung durch Aufhebung der Einkommensgrenze für abhängig Beschäftigte | |
1956 | öffentlicher Gesundheitsdienst | |
Schweden | 1891 | Subventionierung freiwilliger Versicherung |
1953 | öffentlicher Gesundheitsdienst | |
1911 | Subventionierung freiwilliger Versicherung | |
Schweiz | 1916 | erste kantonale Pflichtversicherung |
1996 | allgemeine Versicherungspflicht | |
1911 | Pflichtversicherung mit Einkommensgrenze für Krankengeld | |
Großbritannien | 1913 | Ausweitung auf Sachleistungen |
1946 | Volksversicherung/öffentlicher Gesundheitsdienst | |
1965 | Einkommensbezogene Geldleistungen | |
1922 | Pflichtversicherung für Fabrik- und Bergarbeiter | |
1934 | Ausweitung auf alle Betriebe mit mehr als fünf Beschäftigten | |
Japan | 1938 | Öffnung (freiwillig) für die gesamte Bevölkerung |
1951 | Verpflichtung für die Kommunen, die gesamte Bevölkerung abzusichern | |
1961 | stationäre Akutversorgung landesweit als Volksversicherung | |
Kanada | 1972 | ambulante ärztliche Versorgung landesweit als Volksversicherung |
1965 | Einführung von Medicare (Ältere) und Medicaid (Arme) | |
USA | 1986 | Anspruch auf Notfallversorgung durch Krankenhäuser für die gesamte Bevölkerung |
1997 | Versicherung für Kinder aus einkommensschwachen Familien | |
2015 | Ausweitung des Versicherungsschutzes durch „Obama-Care“ | |
1938 | öffentlicher Gesundheitsdienst | |
Neuseeland | 1965 | Krankengeld |
1944 | Krankengeld | |
Australien | 1946ff. | Subventionierung medizinischer |