Der Gesang des Sturms. Liane Mars
Pfeil und Bogen ab und schoss weit daneben. Elendar seufzte tief, woraufhin Sirany ihn streng musterte. »Was ist los?« Als sie in seine abweisenden Augen blickte, entschloss sie sich. So konnte das nicht weitergehen. »Laufen wir ein Stück.«
Elendar wollte protestieren und fügte sich erst, als er in Siranys dunkel funkelnde Augen blickte. Sie legte ihre Waffe nieder, ging voraus und er folgte ihr einen gewundenen Pfad entlang, den sie schon unzählige Male zuvor gegangen waren. Meist übten sie abseits vom Lager, da sich Sirany unwohl fühlte, wenn sie von anderen beobachtet wurde. Kurz bevor sie auf den Pfad Richtung Lager gelangten, schlug sie sich seitlich in die Büsche und zog Elendar an der Hand mit sich.
»Wo willst du hin?« Elendar klang weiterhin gereizt.
»Spazieren gehen. Das lockert die Muskeln und entspannt.« Sie ließ den widerstrebenden Elendar los. Dort, wo ihre Finger zuvor um Elendars Handgelenk gelegen hatten, prickelte ihre Haut, als wäre eine Horde Ameisen darüber gelaufen. Ein seltsames Gefühl, das sie nicht ganz einordnen konnte. Eine Mischung aus Freude und Unbehagen.
Sie gingen eine Weile schweigend zwischen Bäumen und Büschen umher, wichen Löchern in der Erde aus und stiegen über Wurzeln und Steine.
Sirany wusste, dass Elendar irgendwann von sich aus anfangen würde zu erzählen, und so schwieg sie. Das Laub raschelte unter ihren Schuhen und die Vögel begleiteten ihren Weg mit fröhlichem Singen. Mäuse und Kaninchen flüchteten vor den zwei Menschen ins Unterholz und hinterließen wippende Zweige, die knackend hin und her hüpften.
Und dann endlich fing Elendar an zu sprechen. »Hast du manchmal Angst, Sirany?«
»Angst? Natürlich hab ich Angst.«
»Und wovor?«
Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Das behältst du aber für dich.«
Elendar nickte ernst.
»Ich hab Angst vor dem Gutsherrn. Davor, dass er mich entdeckt und zu sich ruft. Ich habe Angst vor der Reaktion meiner Eltern und davor, dass sie etwas unglaublich Dummes tun. Ich habe Angst davor, dass unsere Tiere nicht über den Winter kommen oder dass die Ernte schlecht ausfällt. Besonders habe ich Angst davor, dass meinen Eltern etwas passiert oder sie sich verletzen und nicht mehr arbeiten können. Wir leben am Rande der Existenzgrundlage und ich habe Angst, dass wir es eines Tages nicht mehr schaffen.«
Sie kamen in die Nähe eines Teiches und hörten das entfernte Glucksen von Wasser und das Platschen von tauchenden Enten.
»Wenn ich hier so entlanggehe, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass unsere Lage so ernst ist. Doch das ist sie. Wir hatten bisher Glück und haben überlebt. Das muss nicht immer so sein.« Sirany verstummte und blieb stehen. »Warum fragst du?«
»Nur so. Es hat mich interessiert.«
»Dich quälen Ängste«, sagte sie trocken. »Deshalb bist du so übel gelaunt. Was ist geschehen?«
Sie rechnete nicht mit einer ernsthaften Antwort und war entsprechend überrascht, als sie eine erhielt. »Die Zeiten ändern sich. Manchmal auch gegen unseren Willen.«
Elendar räusperte sich und ging weiter, um Siranys stechendem Blick zu entgehen. »Ich mag es nicht, wenn ich nicht Herr der Lage bin.«
»Du hast Angst davor.«
Pause.
»Mag sein.«
Sie hatten den kleinen Teich erreicht und Elendar setzte sich an das Ufer. Nichts regte sich in seinen Tiefen, die Fische waren alle auf Tauchstation gegangen und die Enten hatten sich rasch auf die andere Seite verzogen. Aus Erfahrung wusste Elendar, dass der Teich wesentlich tiefer war, als er erschien. Sein Rand fiel steil ab und ging danach mehrere Schritte in die Tiefe. Einzig seine schwarze Farbe wies auf seine Gefahren hin.
Sirany nahm neben ihm Platz und verzog das Gesicht, als sie sich genau auf eine matschige Stelle setzte. Sie schob sich trotzdem die Schuhe von den Füßen. »Was könnte denn in naher Zukunft passieren, warum du nicht mehr Herr der Lage bist?«, nahm sie das Gespräch von zuvor wieder auf. Sie ließ ihre Füße ins Wasser hängen und schauderte, als die Kälte in ihre Haut biss. Das Wasser war kühler als gedacht.
»Möglicherweise werden wir nicht mehr allzu lange in diesen Wäldern bleiben können.«
»Oh.« Siranys Magen zog sich vor Schreck zusammen, genau wie ihr Herz. Gleich darauf fing sie sich wieder. »Dann zieht ihr halt in den nächsten Wald und ich komme euch dort besuchen.«
Elendar lächelte traurig.
»Manchmal wundere ich mich wirklich über deine Naivität.«
Sirany wusste mittlerweile, dass Elendar das nicht beleidigend meinte. Trotzdem tat es ein wenig weh. »In bestimmten Fällen muss man seine Naivität behalten, um nicht traurig und depressiv zu werden. Es hat keinen Sinn, sich über Unausweichliches den Kopf zu zerbrechen. Erst recht nicht, wenn dieses Ereignis gar nicht feststeht. Vielleicht bleibt ihr hier und wir werden viele schöne Tage und Abende zusammen verbringen.«
»Ich mache mir Sorgen, dass ich deine Ausbildung nicht abschließen kann.«
Sirany seufzte tief. »Dein Beschützerinstinkt ist wirklich ausgesprochen ausgeprägt, ganz zu schweigen von deinem Verantwortungsbewusstsein.«
»Sei froh. Sonst wärst du jetzt tot.« Er hatte es leichthin gesagt, doch seine Worte hingen wie ein Fallbeil über ihren Köpfen. Die darauffolgende Stille war ausgesprochen unangenehm.
»Steht euer Abzug denn fest?«, fragte Sirany vorsichtig.
»Nein.«
»Dann hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen. Genieße den Tag, Elendar, und entspann dich endlich.«
Elendar verzog das Gesicht zu einer Grimasse, während er beobachtete, wie Sirany ihre Ärmel hochkrempelte und nun auch ihre Arme in das eisige Wasser steckte.
»Mein Kopf ist so voller Sorgen, dass ich manchmal denke, er zerplatzt mir gleich wie eine reife Tomate«, vertraute er ihr an.
Oha. Elendar Assaim wurde redselig. Es musste ihm wirklich schlecht gehen. »Und welche Art Sorgen quälen dich?«
»Du weißt eine ganze Menge nicht über mich. Ernste Dinge. Wichtige Dinge.«
»Ich weiß.«
»Warum fragst du mich das nie? Jeder normale Mensch hätte das schon längst getan.«
Sirany lächelte schmal. Das war eine Frage, die sie sich selbst schon oft gestellt hatte. »Ich habe das Gefühl, dass mir die Antwort nicht gefallen wird. Du bist mein Lehrer und mittlerweile auch mein Freund. Ich mag dich so, wie du bist. Wir leben in unserer eigenen kleinen Welt, die mir so ausgesprochen gut gefällt. Wenn du mir jetzt mehr über dich erzählst, muss ich mich der Realität stellen.« Sie sah Elendar scharf an. »Wie schlimm sieht diese Realität aus?«
Er zögerte viel zu lange mit einer Antwort. »Sehr schlimm. Ich arbeite für Mächte, die mich vollkommen in der Hand haben. Für Leute, die nur auf einen Fehler von mir lauern, um mich endgültig zu vernichten. Und ich habe Feinde. Sehr gefährliche Feinde. Ihnen bin ich hilflos ausgeliefert. Ich kann nur jeden Tag hoffen, dass sie mich vergessen.«
Sirany hatte von den Gerüchten gehört. Ihr Vater hatte versucht, sie vor ihr zu verheimlichen, doch sie waren an ihr Ohr gedrungen. Sie atmete tief durch, um endlich eine entsprechende Frage zu stellen. »Man munkelt, du würdest den König der Shari persönlich kennen. Den Gottkönig dieser Welt.«
Elendar schnaubte verächtlich. »Alexej ist kein Gott. Er blutet genau wie wir. Ich habe es selbst gesehen.« Als er bemerkte, was er da gesagt hatte, winkte er rasch ab. »Mach dir keine Sorgen. Alexej und du, ihr werdet euch niemals begegnen.«
Wie sehr sich Elendar in dieser einen Sache irrte, sollte er Wochen später erfahren. Wahrscheinlich hätte er in diesem Moment einen Schlussstrich unter seine Freundschaft mit Sirany gezogen. So sagte er lediglich: »Dass