Der Gesang des Sturms. Liane Mars
zurück sind.« Elendar blieb unvermittelt stehen und fasste Sirany an der Schulter. Er sah schrecklich müde aus. Schwarze Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet, das Weiß um die braunen Iriden war mit roten Adern durchzogen. Außerdem war er über und über mit Dreck besudelt.
»Sirany, es tut mir leid. Ich hätte dich bei unserem letzten ernsten Gespräch nicht verunsichern dürfen. Wenn wir den Wald endgültig verlassen, werde ich es dir sagen. Versprochen.«
Irgendetwas stimmte nicht. Sirany musterte ihn prüfend und bemerkte die seltsame Blässe seiner Haut.
»Bist du krank?«
»Nein.«
Das kam ein bisschen zu schnell.
Sie wand sich aus seinem Griff und trat einen Schritt zurück, um ihn ganz in Augenschein nehmen zu können. Erst jetzt bemerkte sie, dass er leicht nach vorn gebeugt dastand, als könnte er sich nicht richtig aufrichten.
»Ich bringe dich ins Lager«, sagte sie kurz angebunden und wollte entschlossen losgehen. Elendar hielt sie mit einer Hand auf.
»Nein. Du gehst zurück zu deinen Eltern.«
Ihre Blicke trafen sich und Elendar seufzte innerlich, als er die Entschlossenheit in Siranys Augen sah.
»Ich bringe dich ins Lager«, wiederholte sie stur. »Ich will mit eigenen Augen sehen, dass du dich hinlegst, und ich will sehen, dass alles in Ordnung ist.« Damit ging sie auch schon los und Elendar blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Elendars Bewegungen waren dabei unnatürlich langsam. Siranys Sorge wuchs.
Als sie das Lager erreichten, herrschte dort eine seltsame Stille. Viele der Männer mussten sich bereits in die Zelte zurückgezogen haben und nur wenige saßen um das Feuer herum. Sie wirkten mürrisch und zerknirscht, standen aber auf, als sie Sirany bemerkten.
Sie grüßte freundlich, blieb stehen und wartete auf Elendar, der langsam zu ihr aufschloss. Sie erkannte Efnor in der Gruppe wartender Männer. Überrascht bemerkte sie seine verärgerte Miene und erschrak, als er Elendar mit vorwurfsvollen Worten angriff. »Du solltest sie nicht hierherbringen.«
Elendar winkte müde ab. »Ich bin sicher, die Toten haben nichts dagegen. Es waren auch ihre Freunde. Sie hat ein Anrecht darauf, bei der Beerdigung dabei zu sein.«
Tote? Beerdigung? Sirany warf den umstehenden Männern einen nervösen Blick zu, dann dämmerte es ihr. Die fehlenden Männer in der Runde schliefen nicht in ihren Zelten. Sie waren tot.
Elendar warf ihr einen langen entschuldigenden Blick zu. Erst danach trat er an seinen Männern vorbei und ergriff eine bereitliegende Schaufel.
»Lasst es uns hinter uns bringen.«
Die Krieger folgten schweigend seinem Beispiel und liefen mit gesenkten Köpfen und mit Schaufeln in den Händen hinter ihm her. Sirany bildete das Schlusslicht des kleinen Trupps, zutiefst erschüttert und verwirrt.
Als sie zurückfiel, unsicher, ob sie nicht doch fehl am Platze war, wartete Zack auf sie und reichte ihr hilfreich die Hand. Auch er sah erschöpft aus und in seinen sonst munter blitzenden Augen schimmerten unvergossene Tränen.
»Komm, Sirany. Du bist ein Teil von uns. Mein Onkel hätte sich über deine Anwesenheit sehr gefreut«, sagte er leise und drückte ihre Hand.
Sirany erwiderte die Geste und folgte dem trauernden Zug.
I
nsgesamt waren neun Männer gefallen und somit war die ohnehin schon kleine Schar auf fünfunddreißig Männer zusammengeschmolzen. Es war ein harter Schlag für Elendar.
Der Abend verlief düster und schweigend. Die Männer mussten ihre gefallenen Kameraden bereits dort, wo sie gefallen waren, verbrannt haben. Ihre Asche hatten sie in kleinen Tonkrügen mitgenommen, die sie nun in die Erde legten. Sie schmückten die frisch aufgehäuften Gräber mit frischen Waldblumen und zogen sich zum Feuer zurück. Dass sie ihre Toten entgegen der geltenden Gesetze verbrannt hatten, ließ Sirany unkommentiert. Es zeigte ihr, wie anders ihre Völker waren. Ein Farreyn hätte das niemals gewagt.
Die ohnehin mundfaulen Assaren sagten die verbleibende Zeit kein Wort, tranken wortlos assarischen Rum und wachten die ganze Nacht. Elendar saß ebenso in Gedanken versunken neben Sirany. Auch er nahm ab und an einen Schluck aus der Flasche, wenn sie an ihn gereicht wurde, überging Sirany jedoch bei der Weitergabe. Diese war nicht böse drum. Assarischer Rum sollte angeblich tödlich für jeden weiblichen Magen sein.
Elendar sendete ihr deutliche Signale, dass er jetzt weder angesprochen noch berührt werden wollte, und Sirany hielt sich daran. Ihr war ohnehin nicht nach Sprechen zumute. Allerdings musste sie sich schwer zurückhalten, um nicht unauffällig seine Hand zu nehmen. Sie spürte, dass er das jetzt brauchte, traute sich nur nicht. In Anwesenheit seiner Männer war das ohnehin keine gute Idee.
Sobald die ersten Sonnenstrahlen durch die Tannen flackerten, zog sich ein Mann nach dem anderen in sein Zelt zurück. Efnor war neben Elendar und Sirany der letzte. Er warf den beiden jungen Leuten einen ernsten Blick zu und seufzte leise. »Ich wollte dich eigentlich allein sprechen«, sagte er zu Elendar. Als Sirany daraufhin aufspringen wollte, winkte er ab. »Bleib sitzen. Wir vertrauen dir.« Es knisterte, als er aus seiner Hosentasche einen zerknitterten Brief zog und ihn Elendar hinhielt.
Der starrte das Papier irritiert an, ehe er es langsam nahm. »Was ist das?«
»Das hat mir Ra… unser Verbindungsmann im Schloss gegeben. Eine Nachricht für uns alle. Eine Warnung.« Es war offensichtlich, dass er beinahe den Namen des Verbindungsmannes ausgeplaudert hätte. Sirany bezweifelte, dass sie denjenigen gekannt hätte. Im Schloss? Welches Schloss? Doch nicht etwa …
Elendar las mit angespannter Miene. Sirany wagte nur einen kurzen Blick darauf, bevor sie ihre Neugierde zügeln konnte. Ein paar Zeilen. Mehr nicht. Sie genügten, um Elendars Gesichtszüge weiter zu verdunkeln.
»Wann hast du die Nachricht bekommen?«, fragte er tonlos.
»Eindeutig zu spät. Der Bote fand uns erst, nachdem wir in den Hinterhalt geraten waren. Elendar! Es war von Anfang an nicht vorgesehen, dass wir überleben.«
Elendar warf Efnor einen seltsamen Blick zu, dann musterte er Sirany. »Lass uns später darüber reden«, entschied er.
»Es geht auch Sirany etwas an.«
»Tut es nicht.«
»Doch. Du bist erneut in den Fokus des Königs gerückt. Das bedeutet, dass wir doppelt vorsichtig sein müssen. Sirany …«
»Ich werde es ihr erklären. Das ist alles, Efnor.« Elendar warf Efnor einen so warnenden Blick zu, dass dieser sofort aufstand und grußlos in sein Zelt verschwand.
Sie schwiegen eine Weile, bis Sirany den Mut fand, nachzufragen. »Muss ich mir Sorgen machen?«
»Nein. Ich lasse mir was einfallen. Efnor ist stets übervorsichtig.« Er nahm den Brief und warf ihn ins Feuer. Knisternd verbrannte er zu Asche. Erst als auch der kleinste Fetzen von den Flammen verzehrt war, entließ Elendar zischend den angehaltenen Atem. »Dieser Brief hätte viele Menschenleben gerettet, wenn er rechtzeitig angekommen wäre«, sagte er traurig.
»Von wem ist er?«
»Von einem Freund. Er steht dem sharischen König nahe. Mehr musst du nicht wissen. Es ist niemand, den du jemals kennenlernen wirst. Meine Vergangenheit ist kompliziert. Lass es gut sein, Sirany. Frag nicht weiter nach. Efnor hätte den Brief nicht vor deinen Augen zeigen dürfen. Er beunruhigt dich nur.«
»Ich bin kein Kind mehr.«
»Das weiß ich.«
»Kommt mir aber nicht so vor.«
»Ich … ach, Sirany. Ich kann jetzt nicht mit dir streiten. Nicht jetzt. Nicht heute. Nicht nach dem, was geschehen ist.«