Der Gesang des Sturms. Liane Mars

Der Gesang des Sturms - Liane Mars


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sollten.«

      Statt zu trainieren, lagen sie nebeneinander im Laub der Bäume und starrten hinauf zu den Kronen, die sich wie ein mächtiges Dach über sie erstreckten. Der Himmel war nicht zu sehen.

      »Sobald der Hahn krähte, rief uns meine Mutter herein und wir frühstückten. Danach ging ich meist zu unserem Dorfältesten, der uns ein wenig in den weltlichen Dingen unterrichtete und uns Lesen und Schreiben lehrte. Mein Vater ging in dieser Zeit allein aufs Feld oder kümmerte sich um Haus und Hof. Ab Mittag wurden die Mädchen bei uns unterrichtet und wir Jungen wurden zur Feldarbeit geschickt. Ich musste meistens die größeren Steine von unseren Feldern tragen. Es ist mühsam, in unseren Bergen etwas anzubauen. Das Geröll wächst dort wie Pilze aus dem Boden. Und wenn ich genug Geröll geschleppt hatte, war es meist später Nachmittag. Dann wurde ich zum Spielen nach draußen geschickt. Hauptsache, ich bewegte mich noch ein wenig, sonst wurde ich abends nörgelig und wollte nicht ins Bett.« Jetzt grinste Elendar breit.

      »Wie alt warst du da?«

      »Fünf oder sechs. Als ich acht Jahre alt wurde, habe ich meine Ausbildung zum Dachdecker angefangen.«

      »Du warst Dachdecker?«

      Siranys Augenbraue wanderte bis unter ihren Haaransatz und ihr Unglauben beleidigte Elendar beinahe.

      »Nicht wirklich. Wie gesagt. Ich fing die Ausbildung erst an. Bei uns bestehen die Dächer aus Stroh. Kinder sind schön leicht und können daher die Dächer am ehesten mit Stroh auslegen. Das ist keine besonders anspruchsvolle Arbeit. Wenn man diese Ausbildung hinter sich gebracht hat, wird einem beigebracht, ganze Hütten zu bauen. Dazu gehört Bäume fällen, Zersägen, Zurechtschneiden, Zusammenzimmern … halt das Übliche.«

      »Aber?«

      »Was, aber?«

      »Du hast diese zweite Ausbildung nicht mehr gemacht?«

      »Nein.«

      »Warum nicht?«

      »Die Shari kamen, Sirany. Da brauchten wir niemanden mehr, der die Dächer mit Stroh auslegen konnte, weil es keine Häuser mehr gab, die es zu bearbeiten galt. Wir brauchten auch niemanden mehr, der Hütten bauen konnte, weil es niemanden mehr gab, der sie hätte bewohnen können.«

      Ein kurzes Schweigen folgte.

      »Ich hasse es, wenn du das machst.«

      »Was?«

      »In einer Sekunde erzählst du mir etwas über deine glückliche Kindheit, in der nächsten haust du mir den Tod um die Ohren.« Sirany seufzte tief. »Ich bin selbst schuld. Was frag ich auch so dumm.«

      Elendar starrte blicklos hinauf zu den Bäumen und wirkte regelrecht entrückt.

      »Meine Kindheit endete leider sehr abrupt mit dem Eintreffen der Shari. Es gab keinen sanften Übergang. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr so wie bisher.«

      »Wie alt bist du?«

      »Einundzwanzig.«

      »Und wann kamen die Shari?«

      »Da war ich acht.«

      »Deine Eltern starben bei dem Angriff?«

      »Ich nehme es an.«

      Wie immer gestaltete sich ein Gespräch mit Sirany urplötzlich zu einer Frage- und Antwortstunde und Elendar fühlte sich wie bei einem Verhör, nur ohne Folter.

      »Das weißt du nicht? Warum weißt du das nicht?«

      Elendar schloss die Augen, um die Welt oder auch den Schmerz auszublenden. »Ich habe meinen Vater nie wiedergesehen. Deshalb nehme ich an, dass er bei dem Angriff ums Leben kam oder danach umgebracht worden ist. Es ist egal, denn er lebt auf keinen Fall mehr. Meine Mutter … ich weiß es nicht. Lass gut sein, Sirany.«

      Mit einem Ruck richtete er sich auf und stand auf. Sie war zu weit gegangen. Seufzend erhob auch sie sich aus dem Laub und klopfte sich die Kleider ab.

      »Ich kann mir nicht vorstellen, was man als Achtjähriger empfinden muss, wenn die ganze Familie auf einmal nicht mehr da ist. Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, was ich machen sollte, falls meinen Eltern etwas zustoßen würde.«

      »Dann würdest du bei mir bleiben«, sagte Elendar leichthin.

      Während Sirany ihn mit offenem Mund anstarrte, warf er ihr auch schon ihren Bogen hin. »Na los, du faules Tier. Du musst noch viel lernen.«

      Kapitel 7

      An Siranys neunzehntem Geburtstag erschütterte ein gewaltiger Sturm das ganze Land. Ab Mittag grollte eine Böe nach der nächsten über Wald, Wiese und Dorf, ließ das Holz knacken und die Tannen stürzen. Ein Heulen und Donnern hing wie eine tödliche Drohung über ihren Köpfen und bei jedem Krachen erschrak Sirany.

      Der Wald fiel regelrecht in sich zusammen.

      Im Haus ihrer Eltern herrschte ebenfalls Chaos. Sie hatten alle ihre Tiere in den Wohnraum geholt, denn die Hühner in dem klapperigen Hühnerhaus wären schon längst vom Wind weggeweht worden und die Ziegen und die drei Kühe schon lange panisch fortgaloppiert.

      Das Gatter, das normalerweise ihre Weide markierte, lag platt auf dem Erdboden, als wäre eine ganze Armee über es hinweggetrampelt.

      Ein Blitz erhellte das Zimmer. Der darauffolgende Donner tat sogar in den Ohren weh. Die Hühner gackerten, die Ziegen meckerten und die Kühe muhten. Sie hatten Ziegen und Kühe fest an die nächste Wand gebunden und jetzt sprangen die Tiere panisch in ihrem geringen Bewegungsfeld hin und her. Die Hühner flatterten aufgeregt im ganzen Zimmer herum und man musste achtgeben, damit man nicht versehentlich auf sie trat.

      Aileen ließ sich auf ihre Knie sinken und begann zu beten, während Sarn unruhig im Zimmer hin und her wuselte und besorgte Blicke auf die vom Wind gebeutelte Scheune warf. Sirany machte sich eher Sorgen um ihr Haus, das wie ein Verwundeter stöhnte und ächzte.

      Plötzlich ertönte ein seltsames Brummen, das von weit hinter den nördlichen Wäldern heranpreschte. Es wurde lauter und lauter und erfüllte mit einem Mal den ganzen Raum, übertönte sogar das angst­erfüllte Geheul der Tiere.

      »Oh Gott«, sagte Sarn. »Da kommt eine gewaltige Böe auf uns zu.«

      Mit einem Satz packte er Sirany, warf sie zu seiner Frau auf den Boden und beugte sich schützend über Frau und Kind.

      Das Krachen berstenden Holzes kam näher, dann erschütterte ein gewaltiges Beben das ganze Haus. Sekunden später wirbelten Splitter und Steine um Sirany herum und sie schrie vor Angst und Schmerz.

      Gewaltige Winde hatten einen Großteil des Dorfes platt gewalzt. Später würde man dieses Wetterphänomen als Orkan bezeichnen, der seit diesem ersten Mal regelmäßig in den Regionen auftauchte.

      Der Sturm hatte ein Drittel des Waldes zerstört. Hauptsächlich waren die wenig verwurzelten Tannen umgestürzt, und überall, wo sich Laubbäume angesiedelt hatten, standen sie wie unheimliche Überlebende inmitten eines Meeres aus totem Gehölz.

      Am wenigsten Schaden hatten die Burgen genommen. Die gewaltigen Bauten aus Stein warfen sich dem Sturm entgegen, und obwohl der mächtige Orkan alles darangesetzt hatte, sie zu zerstören, hatte er es dennoch nicht geschafft.

      Am Abend der Katastrophe sah das Land der Farreyn aus, als hätte eine gewaltige Faust ausgeholt und einmal kräftig auf die Erde gehauen. An manchen Stellen war außer Schutt und Staub nichts mehr übrig geblieben, an anderen stand noch der eine oder andere Baum und in manchen Bereichen sah es aus, als hätte es den Sturm nie gegeben.

      Siranys Dorf war ein Zwischending


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