Der Gesang des Sturms. Liane Mars
spürte, dass sie hier an einem Wendepunkt in ihrer Beziehung angekommen waren. Vorbei war das fröhliche Miteinander, vorbei das unbeschwerte Herumtollen. Sirany war zusammen mit der Wahrheit erwachsen geworden. Als junge Frau musste sie sich nun entscheiden, ob sie das, was Elendar war und was er tat, mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. Momentan war sie sich da noch nicht so sicher und somit mied sie den Wald so gut es ging.
Bald schon stieß ihr das Dorfleben auf. Meistens blieb sie zu Hause, denn die Soldaten patrouillierten weiterhin und hielten Ausschau nach leichter Beute. Manchmal besuchte sie Freundinnen, aber es war, als wäre sie eine Fremde unter alten Bekannten. Die Mädchen tratschten über das Dorfleben, schwärmten von jungen Männern oder planten Hochzeiten mit ihren Verlobten.
Sirany konnte da nicht mitreden. Sie wollte keine Hochzeit und fand auch keinen Mann des Dorfes attraktiv. Um nicht als Außenseiter zu gelten, verstellte sie sich. Sie gab vor, den Sohn des Müllers toll zu finden und malte allerhand Unsinn zusammen mit den anderen aus.
Doch aus einem ihr unbekannten Grund fühlte sie sich, als würde sie Elendar bei ihrem Tun verraten.
Während die Mädchen lachten und gackerten, legte Dorin, die Tochter des Metzgers, plötzlich ihr Strickzeug beiseite und blickte Sirany an. Augenblicklich verkrampfte sich ihr Magen und ein ungutes Gefühl beschlich sie.
»Jetzt mal ehrlich, Sirany. Wir wissen alle, dass du einen Geliebten haben musst«, erklärte sie inbrünstig und augenblicklich wurde es ganz still am Tisch.
Alle Augen wandten sich Sirany zu, die sich unter ihren Blicken unruhig zu bewegen begann.
»Wer soll das denn sein?«, entgegnete sie möglichst unschuldig, doch jede am Tisch hörte das leichte Zittern in ihrer Stimme.
»Keine Ahnung. Das möchte ich gern von dir wissen. Mit wem verschwindest du des Nachts im Wald? Mit wem vertreibst du dir die dunklen Stunden?«
»Mit niemandem, Dorin, wie kommst du denn bloß darauf?«
»Ach, komm schon, Sirany«, entgegnete Ella, ein kleines, unscheinbares Ding.
Sirany hatte vergessen, wessen Tochter sie war, und im Grunde interessierte es sie auch gar nicht. Sie hatte bisher nicht viel mit ihr zu tun gehabt und hatte auch nicht vor, das zu ändern. Schon gar nicht nach den nächsten Worten. »Wir wissen alle, dass du rumläufst wie eine läufige Hündin. Wer dir in die Augen schaut, sieht die Gier nach neuen Sünden. Ständig bist du auf der Suche nach …«
»… nach was?«, unterbrach Sirany sie scharf.
Die Mädchen kicherten und einige machten recht anzügliche Bewegungen. »Nach jemandem, der dich besteigen möchte, nach fleischlicher Befriedigung«, formulierte es Freya, die als Einzige in der Runde verlobt war und dementsprechend auch als Einzige Erfahrung hatte. Beschwörend beugte sie sich über den Tisch und starrte Sirany an, während alle Mädchen mit ihren Blicken an ihren Lippen hingen wie Hündchen an der Zitze ihrer Mutter.
»Du kostest von etwas, von dem du keine Ahnung hast. Sei vorsichtig. Es könnte dich für immer verderben.«
Sie machte eine Kunstpause. Sirany wurde schlecht vor Angst. Was mochte jetzt kommen?
»Männer können grausam sein, mein Herzchen. In der einen Sekunde umgarnen sie dich, sagen dir die herrlichsten Worte, in der nächsten reißen sie dir die Kleider vom Leib, um dich nur wenig später allein zurückzulassen.«
Alle starrten sie an, Sirany nicht minder entgeistert als die anderen. Zum Glück fand sie als Erste ihre Sprache wieder. »Ich kann nichts dafür, dass dir das ständig passiert. Du solltest mal darüber nachdenken, ob es an dir liegt«, entgegnete sie kalt, stand auf und ging so schnell wie möglich aus der Hütte.
Draußen atmete sie tief und zitternd durch und ein fauler Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Elendar war ein Mann in der Blüte seiner Jahre. Es gab keinen Zweifel daran, dass er sich durchaus körperlich zu ihr hingezogen fühlte, aber er hatte sie niemals, wirklich niemals unsittlich berührt.
Außer das eine Mal im Teich … und das eine Mal unter der Bettdecke, um sie zu wärmen … und das eine Mal nach der Feier und … plötzlich wurde ihr schlecht und sie übergab sich hinterm nächsten Busch.
Zu allem Übel hatte das eines der Mädchen gesehen. Neue Gerüchte begannen zu kreisen und man munkelte, Sirany sei schwanger. Dieses Gerücht erreichte sogar die Ohren ihrer Eltern und Aileen sah sich gezwungen, mit ihrer Tochter zu reden.
»Du weißt, was über dich erzählt wird?«, fragte sie streng.
»Ja.«
»Ist da was Wahres dran?«
»Nein«, sagte sie leise und schluchzte heiser auf. »Ich habe nichts Unrechtes getan, das musst du mir glauben. Mädchen können so grausam sein.«
Ihre Mutter nahm sie in die Arme und strich ihr tröstend über den Rücken. »Ich weiß, dass dir der junge Mann aus den Wäldern den Kopf verdreht hat. Aber du weißt gar nicht, was er von dir hält. Er ist älter als du, erfahrener, und er wird es nicht beim Händchenhalten belassen. Hast du verstanden? Sei vorsichtig, mein Kind. Er kann gefährlich für dich werden. Und damit meine ich nicht nur deinen Ruf.«
»Was meinst du genau?«
»Die Leute reden, Sirany! Man hat gesehen, wie er zu Kuma ins Schloss gerufen wurde. Zu Kuma! Das bedeutet, dass er den Mann kennt, der dir am gefährlichsten werden kann. Er arbeitet für ihn.«
»Er würde mich nie verraten, Mama. Nie!«
»Hoffen wir es. Es sieht trotzdem für die Dorfbewohner so aus, als würdest du mit dem Feind paktieren. Das kann uns auf Dauer schaden und erregt unangenehme Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die wir vermeiden müssen. Wenn Kuma dich durch Elendar bemerkt, können wir dich nicht mehr retten. Sollte das passieren, kannst du auch nicht auf deinen Freund hoffen. Auch sein Leben liegt in Kumas Händen.«
Sirany bemühte sich, weitere Tränen zurückzuhalten. Ihre Mutter hatte recht. Trotzdem tat es weh, der Wahrheit ins Auge sehen zu müssen. »Wir treffen uns ohnehin nicht mehr. Es ist vorbei«, flüsterte sie und ihr Herz fühlte sich an, als müsste es zerspringen.
Aileen zog daraufhin ihre Tochter in die Arme und wiegte sie wie ein kleines Kind. »Ach, mein Mädchen. So jung und schon solche Probleme. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ihr euch eine Weile nicht seht. Man beobachtet dich auf eine Weise, die mir nicht gefällt. Wenn du dich und ihn nicht in Gefahr bringen willst, bleib vorerst zu Hause.«
»Find dich damit ab, du hast sie vertrieben«, sagte Sheyn eine Woche später zu Elendar. »Ist auch besser so. Ein Assar gehört zu einer assarischen Frau. Farreyn … pah.« Verächtlich spuckte er auf den Boden. Efnor legte Elendar mahnend eine Hand auf die Schulter, damit dieser sich nicht wutentbrannt auf den anderen Krieger stürzen konnte.
»Sie wird kommen, wenn sie das Problem der Assaren verstanden hat«, sagte Efnor im Brustton der Überzeugung. »Sie wird es verstehen und sie wird kommen.«
Tatsächlich kam sie eines Nachts, allerdings anders als erwartet.
In ihrem Dorf wurde in dieser Nacht eine Hochzeit gefeiert. Die meisten waren schon sturzbetrunken, noch ehe der Priester das Paar getraut hatte. Die Braut war untrüglich schwanger und der Grund der Hochzeit überdeutlich. Sie wirkte auch nicht gerade, als ob sie die Feier wirklich genießen konnte.
Sirany musste an diesem Abend jede Menge Sticheleien über sich ergehen lassen.
»Schaut nur, da ist sie. Sie wird die Nächste sein. Von wem sie wohl schwanger ist?«, und andere miese Andeutungen wurden ihr hinterhergetuschelt. Sirany ignorierte die Tratschtanten weitestgehend und versuchte erst recht, den Jungen auszuweichen. Seitdem sie als leichtes Mädchen galt, war mit ihnen nicht mehr gut auszukommen. Sie hielt sich möglichst nah bei ihren Eltern und verwünschte die närrische Bande um sich herum