Ideas, Concerns and Expectations (ICE) in der Arzt-Patienten-Kommunikation. Sascha Bechmann
eher erreicht werden kann, wenn man den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen misslungener Kommunikation und patientenseitigem Fehlverhalten betrachtet und dabei Kommunikation als dem Verhalten nicht nur temporal, sondern auch konditional vorgeschaltet erkennt. Auf diesen wichtigen Zusammenhang, der bislang kaum ausreichend diskutiert worden ist, weisen auch Koerfer und Albus hin:
So sehr das Ausmaß der Nicht-Adhärenz und ihre Folgelasten inzwischen gut untersucht sind, so wenig sind die Ursachen dieses ,Fehlverhaltens‘ bisher ausreichend geklärt. Dabei ist dieses Fehlverhalten nicht einseitig der bloßen „Unvernunft“ von Patienten zuzuschreiben, die es sicher auch geben mag, sondern vielmehr der Art der Beziehung zwischen Arzt und Patient selbst anzulasten, in der offenbar die Kommunikation vor, während oder nach einer medizinischen Entscheidung ,fehlerhaft’, ,missverständlich‘ oder ,dysfunktional’ verlaufen oder auch nur einfach ,zu kurz‘ gekommen ist.3
Die beiden Autoren setzen einen wertvollen Impuls für weitere Forschung zur Nicht-Adhärenz: Anstatt sich mit den Folgen von sogenannter Non-Adhärenz nach der ärztlichen Konsultation zu beschäftigen, ist es notwendig, sich den Gelingensbedingungen zuzuwenden, die im ärztlichen Gespräch ihre Wirkung entfalten.4 Störungen und Defizite in der dem Handeln der Patienten stets vorgeschalteten Kommunikation mit Ärzten führen in der Folge zu Defiziten im Handeln der Patienten. Insofern ist Kommunikation (und dabei das kommunikative Meta-Ziel Verständnis) als Forschungsgegenstand der Erforschung von (Non-)Adhärenz vorgelagert. So ist es wenig sinnvoll und nicht hinreichernd, sich mit den gravierenden individuellen Gesundheitsfolgen (Mortalitätsrisiken und Morbidität) oder den ebenfalls enormen ökonomischen Folgen von fehlender Adhärenz zu beschäftigen. Vielmehr muss die Erforschung der grundlegenden und ursächlichen Kommunikation in den Vordergrund rücken. Die zentrale Fragestellung eines solchen Forschungsbemühens muss lauten: Wie kann es gelingen, durch kommunikative Handlungen auf Seiten der Ärzte die gewünschten Handlungsweisen auf Seiten der Patienten zu bewirken und zugleich die patientenseitigen Perspektiven in diesen Kommunikationsprozess so zu integrieren, dass der Erfolg der beiderseitigen Bemühungen nachhaltig gesichert ist? Wie kann kommunikativ das notwendige Kompetenzgefühl vermittelt werden? Und was ist dazu notwendig, wechselseitig Verständnis herzustellen und zu sichern?
Dabei ist Verständnis deutlich mehr als Verstehen. Missverständnisse in der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten sind folgenreich für den gesamten Prozess medizinischer Intervention. Längst ist bekannt, dass Verstehen (im Sinne reiner Sprachverarbeitung als kognitive Leistung) außersprachlich eine enorme Wirkung entfaltet. Verstehen dient nicht allein der (sprachlichen) Verständigung, Verstehen ist als Eckpfeiler des Verständnisses handlungsauslösend und verhaltensändernd. Zudem ist Verstehen als Basis des Verständnisses auch sozial bedeutsam, denn Verständnis ist die Voraussetzung für das in der medizinischen Interaktion zwingend notwendige Vertrauen. Gerade in einem Prozess, der in entscheidender Weise von der Mitwirkung des Patienten abhängt, ist wechselseitiges Vertrauen wichtig: Vertrauen des Patienten in die Fähigkeiten des Arztes sowie umgekehrt das Vertrauen des Arztes in den Willen des Patienten, die professionellen Empfehlungen in konkrete Handlungsweisen zu überführen. Nur dann, wenn Patienten den Ratschlägen ihrer Behandler folgen, wird der Behandlungsprozess erfolgreich verlaufen. Gegen- und wechselseitiges Vertrauen ist aufgrund der Diskrepanz zwischen Laien- und Expertenwissen einerseits und des Umstandes, dass Schnittstellen zwischen diesen beiden Wissenssphären vorhanden sind, andererseits nicht nur wichtig, sondern kann als geradezu konstituierend für den medizinischen Gesamtprozess betrachtet werden.
Auf welche Weise im Kommunikationsprozess wechselseitig Verstehen und Verständnis gewährleistet werden können, wann und auf welche Weise die Patientenperspektive Eingang in das Gespräch finden soll, und was geschieht, wenn dies ausbleibt, das ist ein wichtiges Forschungsfeld der angewandten Linguistik und der Kommunikationswissenschaft und entsprechend auch Gegenstand dieser Untersuchung.
Ziel ist es, anhand des ICE-Modells (als Akronym für ideas, concerns & expectations) die Bedeutung des Gesprächs insgesamt aus einem neuen und bislang kaum gewählten Blickwinkel hervorzuheben und die Kommunikationsschwierigkeiten und -gefahren zwischen Arzt und Patient im Spannungsfeld von subjektiven und wissenschaftlichen Konzepten von Gesundheit und Krankheit aufzuzeigen.5
Dass es sich beim (auch und vor allem gesundheitspolitisch) postulierten „Jahrhundert des Patienten“ insgesamt um ein soziales Phänomen handelt, das sich in besonderer Weise in einer sich (zumindest in den sogenannten Informationsgesellschaften) verändernden kommunikativen Praxis zeigt, wird evident, wenn man einen Blick auf neuere Konzepte und sich daraus ergebende Strategien der Patient-Arzt-Kommunikation wirft. Der Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung patientenseitiger Vorstellungen und Kompetenzen in alle Prozesse der gesundheitlichen Versorgung (nicht allein die Behandlung, sondern beispielsweise auch die Prophylaxe) entspricht eine, mit diesen Forderungen korrelierende, Veränderung in den kommunikativen Prozessen. Die (kommunikative) Berücksichtigung patientenseitiger Vorstellungen (ideas), Ängste (concerns) und Erwartungen (expectations) entspricht eben dieser Forderung nach Patientenautonomie in besonderer Weise.
Diese Erkenntnis, die alles andere als neu ist, gewinnt in Deutschland erst sehr langsam an praktischer Relevanz. Das liegt vor allem daran, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Kommunikation an (gelernten) Techniken ausrichten, die eher gesprächssystematisch ausgerichtet sind und damit als im Kern (rein) prozessorientiert zu beschreiben sind. Daraus ergeben sich kommunikative Schwierigkeiten, denn in der ärztlichen Gesprächsführung gibt es im Idealfall keine Trennung zwischen Prozess und Inhalt, sondern eine Prozess-Inhalt-Korrelation. Es ist also kaum zielführend und wenig erfolgversprechend, durch Frage-Antwort-Abfolgen oder durch strukturelle Techniken, wie beispielsweise die WWSZ-Technik6, die Kommunikation zwischen Arzt und Patient allein gestalten zu wollen. Ohne die Betrachtung und ohne die kommunikative Einbeziehung der zentralen Gesprächsinhalte, die sich arzt- und patientenseitig aus unterschiedlichen Bedürfnissen und Wissensbeständen speisen, kann Kommunikation kaum gelingen.
Das Wissen über die arztseitigen Bedürfnisse und Wissensbestände ist hinreichend untersucht und soll nicht im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen stehen. Dass Ärzte vorrangig somatische Fakten benötigen, ist evident. Welche Bedürfnisse auf Seiten der Patienten bestehen und auf welche Weise diese Bedürfnisse mit Wissensbeständen verwoben sind, dazu ist in der deutschsprachigen Literatur zur Kommunikation zwischen Patienten und Ärzten wenig zu finden. Die Forschung zur Patient-Arzt-Kommunikation lenkt seit den frühen 1980er Jahren den Fokus stark auf das kommunikative Verhalten von Ärztinnen und Ärzten. Diese eher einseitige Betrachtung, die sich auch terminologisch darin spiegelt, dass vorwiegend von einer Arzt-Patient-Kommunikation gesprochen wird, vernachlässigt die in zahlreichen Studien als bedeutsam erkannte Patientenperspektive. Indem man sich vorwiegend mit dem ärztlichen Frageverhalten beschäftigt (gesprächslinguistische Untersuchungen lenken häufig genau darauf den Blick), geraten die kommunikativen Bedürfnisse von Patienten ebenso aus dem Blickfeld, wie die kommunikativen Strategien, mit denen Patienten ihre Bedürfnisse kenntlich machen und versuchen, ihnen Raum im Gespräch zu verschaffen.
Dies ist umso erstaunlicher, als dass im angelsächsischen Raum bereits seit den 1960er Jahren Studien zu den patientenseitigen Bedürfnissen vorliegen. Während in Deutschland erst seit 2012 durch die Änderung der ärztlichen Approbationsordnung ein Bewusstsein für die Bedeutung kommunikativer Kompetenzen erkennbar wird, das sich in mehr oder weniger elaborierten curricularen Vorgaben ausdrückt, konnte bereits 1985 von Leventhal et al. gezeigt werden, dass die kommunikative Berücksichtigung patientenseitiger Vorstellungen, Ängste und Erwartungen ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg ist. Die Überführung des ICE-Modells in konkrete Handlungsempfehlungen für eine patientenorientierte Kommunikation ist in Deutschland noch nicht gelungen. Bislang lassen sich auch noch keine Versuche erkennen. Im Wesentlichen dürfte dies an der Unkenntnis dieses Modells liegen. Untersuchungen zu diesem Modell sind nachgerade als ein Desiderat zu betrachten. Insbesondere kann das Modell dadurch an Akzeptanz gewinnen, dass es aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Im Zentrum der hier vorliegenden Untersuchungen stehen (neben einer kommunikationstheoretischen Hinführung) auch gesprächs- und kognitionslinguistische Dimensionen, die das Modell greifbar machen sollen.