Ideas, Concerns and Expectations (ICE) in der Arzt-Patienten-Kommunikation. Sascha Bechmann
Gegenstandsbereich: Die Wirkung von Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten entfaltet sich zwar im Kontext medizinischer Entscheidungen und sie ist im Kern medizinisch (wie jedes andere ärztliche Handeln auch), sie entfaltet sich aber eben ausschließlich im Gespräch. Daher steht es Linguisten nicht nur zu, sondern es gehört auch ihrem Selbstverständnis nach zu ihren Kernkompetenzen, die im Gespräch kumulierenden kommunikativen Rollen, Konzepte und Wirkungen nicht nur zu beschreiben (= Deskription), sondern auch unter normativen Gesichtspunkten zu betrachten. Ausgehend von allgemeinen Überlegungen zum Gespräch im medizinisch-institutionellen Rahmen soll im Folgenden ein Kommunikationsmodell auf breiter Forschungsbasis und im Kontext v.a. kognitionslinguistischer Erkenntnisse zu subjektiven Krankheitstheorien skizziert werden, das in der praktischen Anwendung seine Stärken zeigen kann.
In der vorliegenden Untersuchung wird das ICE-Modell auf der Folie kommunikationstheoretischer Überlegungen näher beleuchtet. Ziel ist es, dieses in Deutschland recht unbekannte Modell vorzustellen und einzuordnen, die wesentlichen kommunikativ-interaktionalen Vorzüge anhand von Studienergebnissen herauszuarbeiten und das Modell einzubinden in ein kommunikatives Gesamtkonzept.
Dazu wird das ICE-Modell w. u. in ein Phasenmodell ärztlicher Gesprächsführung (Calgary-Cambridge-Guides) integriert und mit konkreten kommunikativen Techniken verknüpft. Die Basis für diese Überlegungen bildet eine Betrachtung interaktionaler Besonderheiten der Arzt-Patient-Kommunikation, die im nächsten Kapitel folgen wird. Wesentlich für die Bewertung des ICE-Modells wird anschließend die Verknüpfung mit dem Modell der Krankheitsrepräsentation (Common-Sense Model of Illness-Representation) nach Leventhal7 sein, das gewissermaßen die (kognitionswissenschaftliche) Basis für das ICE-Modell bildet. Verwoben wird dieses mentale Repräsentationsmodell mit Überlegungen zu subjektiven Theorien. Auf dieser Folie werden linguistische Überlegungen zu sogenannten Frames den Blick auf das ICE-Modell weiten. Diese Überlegungen können dabei helfen, Missverständnisse zu erklären, die über die Aktualisierung falscher Frames (ich nenne das Phänomen weiter unten Falscher-Frame-Fehler (FFF)) entstehen können. Ein Exkurs in die Frame-Theorie mit weiterführenden Gedanken zur strukturellen Bestimmung von sprachlichem Wissen in Frames speziell im medizinischen Kontext wird auch unkundigen und fachfremden Lesern das nötige Verständnis ermöglichen.
In der Gesamtbetrachtung wird sich zeigen, dass die Exploration der Elemente des ICE-Modells mithilfe eines geeigneten Kommunikationsmodells maßgeblich zu einer Verbesserung der Patientenversorgung – v.a. über die Faktoren Patientenzufriedenheit und Adhärenz – beitragen kann.
1.2 Das ICE-Modell – Definition, Evidenz und Rahmenbedingungen
Während im deutschsprachigen Raum sowohl in der Lehre als auch in der Forschung in erster Linie konkrete Techniken der ärztlichen Gesprächsführung im Fokus stehen (beispielsweise die WWSZ-Technik oder das NURSE-Schema)1, werden seit den 1970er-Jahren vor allem in Nordamerika Modelle der Arzt-Patient-Interaktion diskutiert, die für das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten von besonderer Bedeutung sind und die in gegenwärtigen gesundheitspolitischen Forderungen auch hierzulande berücksichtigt werden. Kern dieser Überlegungen bildet die Überzeugung, dass es einen Paradigmenwechsel in der Arzt-Patient-Beziehung gegeben hat, der das Ideal der Patientenorientierung und -zentrierung hervorhebt und eine Abkehr von traditionellen paternalistischen Rollenvorstellungen darstellt.2 In der Konsequenz bedeutet dieser Paradigmenwechsel die Einbeziehung der Patientensicht unter der Berücksichtigung der Patienteninteressen.3 Kommunikation gilt dann als gelungen, wenn diese Einbeziehung gelingt. Gelungene Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten kann nachweislich positive Auswirkungen auf den Behandlungserfolg und somit auf die Gesundheit des Patienten haben: „When the advice is ‚congruent‘ with their beliefs, people are more likely to adhere to medical treatment.“4 Fühlen sich Patienten wertgeschätzt und ernstgenommen, stärkt dies die Vertrauensbasis und führt zu einer Verbesserung der Adhärenz.
Das Modell des shared decision making (SDM) oder collaborative decision making5 (CDM) wird in Deutschland mit der Bezeichnung partizipative Entscheidungsfindung6 (PEF) übersetzt und sagt aus, dass ein tragfähiges Beziehungsmodell zwischen Ärzten und Patienten auf einem „wechselseitigen Prozess der Berücksichtigung medizinischer und zugleich psychologischer Erfordernisse basiert“7. Dieser Prozess ist untrennbar verwoben mit der Einsicht, dass einzig durch den wechselseitigen Austausch relevanter Informationen a) Verständnis hergestellt und b) Einverständnis erzielt werden kann:
Damit der Patient unmittelbar an der Verantwortung beteiligt ist (und nicht nur an der Entscheidung wie im Konsumentenmodell), bedarf es hier der Bereitschaft des Patienten, wichtige Informationen zu teilen, Entscheidungen zu treffen und die Konsequenzen mitzutragen.8
Das Teilen von Informationen, das Tragen von Konsequenzen und die Möglichkeit, Entscheidungen treffen zu können, korreliert m.E. mit den kognitiven Dimensionen Ideen (ideas), Befürchtungen (concerns) und Erwartungen (expectations), die als Grundlage für die Entwicklung des ICE-Modells zu werten sind.9
1.2.1 Ideas
So ist die Informationsebene stets verbunden mit Vorstellungen und Ideen (ideas) über z.B. Krankheitsschwere, Krankheitsdauer oder Krankheitsursachen.1 Solche Laienvorstellungen, insbesondere über die Ätiologie von Krankheiten (verstanden als Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge), sind traditionell Gegenstand der medizinischen Psychologie sowie der Ethnomedizin.2 Der Ansatz dieser Forschungsrichtung ist stark geprägt von der Einsicht, dass das Wissen des Arztes über Laienvorstellungen entscheidend dazu beitragen kann, das Beziehungsgefüge zwischen Arzt und Patient positiv zu beeinflussen. Die Vorstellungen und Ideen der Patienten zu kennen ist notwendig, „um sie für eine positive Veränderung von Krankheitsverläufen im Sinne einer verbesserten ,compliance‘ durch den Patienten selbst fruchtbar zu machen“3. Somit stellen die Laienvorstellungen das Fundament dar, auf dem erfolgreiche Aufklärung und die weiteren Schritte auf dem Weg hin zu einer partizipativen Entscheidungsfindung überhaupt erst einen sicheren Stand finden. Verbunden damit ist die Tatsache, dass es sich bei den meisten Krankheiten
1 um sehr komplexe und abstrakte – und für Laien oft schwer zu fassende – medizinisch-pathologische Zusammenhänge handelt und
2 Ideen von der Pathogenese sowie von den Möglichkeiten der Heilung oft eingebunden sind in ein festes Werte- und Normengefüge, in welchem der Arzt aufgrund seiner Profession eine zentrale Rolle spielt.
Insbesondere Erwartungen (expectations) sind eng verwoben mit dieser Vorstellung von der Rolle des Arztes als Heiler (s.u.). Als Problem für die Arzt-Patient-Beziehung erweist sich mit Blick auf das (disparate) Wissen der Patienten über Krankheiten die Diskrepanz zwischen den Wissensbeständen der Patienten als Laien und dem Wissen der Ärzte als Experten. Hier gilt es, durch gezieltes Erfragen der ideas, eine Vorstellung davon zu bekommen, was Patienten wissen (bzw. glauben) und was nicht. In Zeiten von „Dr. Google“ ist dieses Wissen sehr unterschiedlich ausgeprägt und oft bruchstückhaft.
Die Erfragung von Vorstellungen und Ideen ist funktional bedeutsam: Die patientenseitigen Vorstellungen werden sehr häufig von ihnen selbst für Erklärungsversuche eingesetzt, was zu erheblich greifbareren und nachvollziehbareren Zusammenhängen beiträgt.
Dieser Aspekt könnte für die Arzt-Patient-Interaktion insgesamt förderlich sein:
Diese Art des Erklärens, die auf bruchstückhaftem Wissen und heterogenen Vorstellungen sowie auf Ableitungsregeln mit hinreichendem Allgemeingültigkeitsanspruch basiert, könnte man als ,Laientheoretisieren’ ansehen. Der Umgang der [Patienten] mit ihren eigenen Wissensbeständen innerhalb eines Institutionenkontextes hat einen prozeßhaften Charakter. Gerade der Einblick in diese Prozeßhaftigkeit […] könnte für die Beratungspraxis (insbesondere für die Informationsvermittlung und -bewertung) fruchtbar gemacht werden.4
Neben die medizinisch-psychologische Betrachtung treten gegenwärtig die kognitionswissenschaftlichen Disziplinen, die in neuerer Zeit Krankheitsmodelle auf der Basis von kollektiven und individuellen Wissensbeständen entwerfen. So ist