Schauplatzwunden. Ludwig Laher
die einen, Leidtragende die anderen, problematisch Eingebundene die Dritten. Alle zusammen erweisen sie sich als einigermaßen beliebige Versatzstücke des gesellschaftlichen Durchbruchs einer ebenso absurden wie stringenten Schreckensherrschaft. Das relativiert, entschuldigt nichts, aber die Begriffe Schuld und Unschuld, Gut und Böse stehen weniger im Mittelpunkt meines Interesses als die komplexe, zum damaligen Zeitpunkt und weit darüber hinaus nicht nur für die meisten direkt Betroffenen undurchsichtige Gemengelage, die solch Entsetzliches zuließ und sich auch dem Leser, der Leserin nur häppchenweise erschließen soll.
Es hätte eines beträchtlichen, eines schmerzhaften Aufwandes bedurft, nach dem Wiedererstehen der Republik Österreich wirklich Licht in die zahllosen Dunkel zu bringen, von denen dieses hier meiner Überzeugung nach besonders viele bedenkenswerte Facetten aufweist. Dass darauf im großen und ganzen verzichtet wurde, ist heute allgemein bekannt und bis zu einem gewissen Grad auch nachvollziehbar. Welche Langzeitfolgen damit bis in die unmittelbare Gegenwart verbunden sind, wird immer noch sträflich unterschätzt.
Aus Respekt vor den Opfern, Leuten wie du und ich, und jenen wenigen, denen die Verfolgten auch in äußerst gefährlichen Zeiten ein echtes Anliegen waren, bitte ich die einen vor den Vorhang. Anderen, den Tätern, wird schon dieser Vorsatz höchst unangenehm sein, denke ich mir. Solchen Herrschaften wäre es natürlich sehr recht, bliebe wenigstens ihre eigene Geschichte ausgespart. Diese Freude will ich ihnen nicht machen.
Zweifellos helfen das auch nachträglich geringe gesellschaftliche Gewicht ihres monströsen Fehlverhaltens und die erbärmliche Kumpanei angesehener Institutionen mit den angeblich einer Siegerjustiz ausgelieferten Mördern etlichen von ihnen dabei, sich lange erfolgreich distanzieren zu können, oft auch geographisch. Das Die-Sau-Rauslassen begreifen sie bald nur mehr als ferne Episode ihres Lebens.
Damit soll jetzt Schluss sein. Ich gehe ihnen nach, wenn es sein muss, bis ans andere Ende der Welt. So spannt sich der räumliche Bogen vom abgelegenen Fleckchen in einem verschlafenen Winkel des oberösterreichischen Innviertels ganz selbstverständlich bis hin nach Italien und Syrien, sogar bis über den großen Teich in die unabsehbaren Weiten Südamerikas.
Und auch zeitlich geht es zuweilen tief zurück, nicht zuletzt wegen der Inhalte teils prophetischer Schriften eines in Weyer geschundenen Germanisten, dessen Großvater als junger Mann mit Franz Schubert befreundet war. Der Ich-Erzähler meines Buches wiederum ist eindeutig in der Gegenwart angesiedelt, und manches, was ausgebreitet wird, reicht ebenfalls fast an diese heran.
Sie haben es längst bemerkt, ich erlaube mir darüber hinaus ohnehin, alle Gewesenen in eine andersartige, eine zeitlose Gegenwart zurückzuholen, vergegenwärtige sie mir, Ihnen im Wortsinn. Nicht als abgeschlossene Abgelegte will ich sie nämlich begriffen wissen, sondern als unmittelbare Gegenüber, denen ich, wenigstens vom Ansatz her, ein mir letztlich nur ausschnitthaft zugängliches Eigenleben und ein gewisses Mitspracherecht zubillige. Ich bin jedenfalls bereit, mich auf sie einzulassen. Nichts ist vergangen.
Es ist wichtig, beim Lesen stets mitzubedenken, dass vielen der handelnden Personen die in der folgenden Prosa umfassend aufgeschlüsselten, für sie relevanten Zusammenhänge oft bis an ihr Lebensende ganz oder in Teilen unbekannt bleiben. Einen weitgehenden Überblick habe nur ich, haben nach der Lektüre aber auch Sie, selbst wenn sich nicht alle Lücken schließen lassen.
Ob sich eins zu eins wiederholen könnte, was Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts einen trotz aller vorangegangenen Greuel beispiellosen Zivilisationsbruch ausmachte, ist eine müßige Überlegung. Außer Frage steht für mich, dass leider keine evolutionären Schutzmechanismen vorgesehen sind, die den Homo sapiens vor ähnlichen Eruptionen dauerhaft feien würden.
Die einst mit einer nach wie vor gültigen Adresse in Weyer tragisch Verknüpften stehen daher gut und gern auch für jene, die heute an verschiedenen Ecken und Enden emsig ihren Geschäften nachgehen oder, gerade einmal eingetroffen auf diesem Planeten, gesäugt werden und irgendwann in der Zukunft womöglich in einen vergleichbaren Spiralstrudel geraten, ihn gar mitverursachen könnten, den rechtzeitig abzuwenden jede Generation neu aufgerufen ist. Dafür bedarf es freilich eines gesellschaftlichen Sensoriums ausreichend vieler mit historischem Wissen ausgestatteter, sprachlich sensibler und vor allem herzensgebildeter Individuen, die konsequent davon Abstand nehmen, analog wie digital mit den Wölfen zu heulen.
Auleitner, Alois
Der adrett gescheitelte, ausgesprochen fesche Knabe im zeittypischen Matrosenanzug hat gegen Ende der Zwanzigerjahre auf einem gepolsterten Bugholzsessel Platz genommen. So richtig wohl scheint er sich in dieser fremden Umgebung aber nicht zu fühlen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sitzt er in einem professionellen Photostudio. Minutenlang hat man ihn ins beste Licht zu rücken versucht, seine Haltung bis ins Detail korrigiert. Vor sich auf den Knien ein geöffnetes Büchlein, blickt Alois Auleitner ernst in die Kamera und hält sich still. Sein Vater Jakob, ein Magazineur, ist dreiundzwanzig Jahre älter als seine Frau Maria. Ich stelle mir vor, er wird gehörigen Stolz für seinen späten Nachwuchs empfinden, wenn er diese Aufnahme zum ersten Mal in der Hand hält.
Nach der Schule durchläuft das Kind eine kaufmännische Lehre, wird Handelsangestellter, wechselt in der zweiten Hälfte der stürmischen Dreißiger zur Eisenbahn. Ein sicherer Arbeitsplatz bei einem Staatsbetrieb ist in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Gold wert. Als der Säugling Alois im Mai 1916 in Ried im Innkreis geboren wurde, schaute es auch nicht besser aus, ganz im Gegenteil. Der Weltkrieg tobte, der Zerfall Österreich-Ungarns, die verheerende Spanische Grippe, Hunger, Not, Geldentwertung standen unmittelbar bevor.
Erneut hat Auleitner einen Termin im Atelier des Photographen, er nimmt dieselbe Haltung ein wie damals: Viertelprofil von rechts, Kopf dem Betrachter zugewandt. Diesmal aber trägt der smarte, wohlgenährte junge Mann, vor kurzem erst großjährig geworden, bilde ich mir ein, einen eleganten, perfekt sitzenden schwarzen Anzug mit weißem Stecktuch, ein weißes Hemd und Krawatte. Er lächelt sogar, eher schüchtern als selbstgewiss.
Als er im November 1939 für den Kriegsdienst registriert wird, hat Alois Auleitner gerade die Liebe seines kurzen Lebens kennengelernt. Theresia ist zweieinhalb Jahre älter als er und gelernte Damenschneiderin. Was für ein Glück, dass Eisenbahner kriegswichtig sind und vorläufig nicht fürchten müssen, an die Front geschickt zu werden.
Doch schon im Juli 1940 macht die Deutsche Reichsbahn dem jungen Paar, das an Heirat denkt, einen dicken Strich durch die Rechnung. Von einem Tag auf den anderen versetzt man Auleitner nämlich zum Gleisbauzug in die soeben vom besiegten Frankreich annektierte Saarpfalz, einen Landstrich im Norden Lothringens. Noch im selben Jahr wird die ganze Region in Westmark umbenannt werden. Ostmark, Westmark, damit ist eigentlich alles gesagt, von einem Ende des Reiches ans andere schickt man den Lois um des in atemberaubendem Tempo immer größer werdenden Ganzen willen. Er wird seine Resi in Zukunft wohl nur noch sehr selten zu Gesicht bekommen.
Widerwillig tritt er die lange, umständliche Reise an, erhält in Hundlingen, einem kleinen, auf den ersten Blick gesichtslosen Nest, sein Quartier zugewiesen, wird eingekleidet. Am nächsten Tag soll er zum Dienst erscheinen, doch da sitzt Auleitner schon im Zug zurück ins Innviertel. Die unmittelbare Ursache für seine spontane Entscheidung lässt sich beim besten Willen nicht mehr rekonstruieren. Ist es bloß die Sehnsucht nach Theresia, das verdammte Heimweh? Über die möglichen Folgen seines Tuns dürfte der junge Mann sich jedenfalls nicht ausreichend informiert haben. Daheim möchte er sich zur Eisen- und Metallverarbeitungsfachkraft ausbilden lassen, sagt er, als er wieder in Ried ist.
Es ist noch nicht lange her, dass das generelle Verbot eines Arbeitsplatzwechsels ohne Zustimmung des Arbeitsamtes in Kraft trat. Schnell spricht sich Auleitners unerlaubte Entfernung vom Dienstort bis zum Bürgermeister von Ried durch. Reiner Zufall, aber ausgesprochen praktisch, dass nahezu zeitgleich im äußersten Südwesten des Reichsgaus Oberdonau dicht an der überwundenen früheren Staatsgrenze zum Altreich ein zweckmäßiges Arbeitserziehungslager für asoziale Elemente seine Pforten öffnet.
SA-Obersturmbannführer Franz Kubinger, der kürzlich ernannte Gaubeauftragte für Arbeitserziehung, beehrt sich, diese segensreiche Einrichtung allen Bürgermeistern anzeigen zu dürfen: »Eingeliefert können solche Volksgenossen