Schauplatzwunden. Ludwig Laher
Amtsvormund zuzuweisen. Ein solcher, verraten die erhaltenen Pflegschaftsakten des Kindes, wird am vierten Mai 1941 in der Person Franz Königs aus dem nahen Ostermiething bestellt. Dafür, dass dieser Herr auch nur die geringste Aktivität im Interesse seines weggesperrten Mündels setzt, fehlt jeder Beleg.
Doktor Kotzmann muss das nicht weiter bekümmern, ihm beschert die Anlieferung der vielen Zigeuner mit ihren für amtliche Abläufe lästigen, unorthodoxen Familienverhältnissen in erster Linie zusätzlichen Verwaltungsaufwand. Als junger Mann hat der verdiente Oberlandesgerichtsrat ab 1912 hier in Wildshut noch dem Kaiser gedient, in der Folge unter allen anderen, die gerade an der Macht waren, ebenso gewissenhaft seine Pflicht getan, wie sehr das Rechtsempfinden über die Jahrzehnte auch variieren mochte. Auch am Beginn der zweiten Republik Österreich wird Doktor Kotzmann weitermachen wie bisher, bevor er sich 1946 endlich in den verdienten Ruhestand verabschieden kann.
Keine vier Kilometer von Schloss Wildshut entfernt, wo der Gendarmerieposten und das Amtsgericht untergebracht sind, vegetiert die kleine Amalia zu diesem Zeitpunkt schon über ein Vierteljahr ohne Unterricht, ohne Spielzeug und ohne sinnvolle andere Beschäftigungsmöglichkeiten dahin. Zu allem Überdruss grassiert im Lager momentan eine gefährliche Lungenentzündung mit hohem Ansteckungspotential. Die Inhaftierten sollen einander aus dem Weg gehen, aber die Wege sind versperrt. Tote werden weggeschafft.
Der Gemeindearzt von Sankt Pantaleon und Lagerarzt von Weyer in Personalunion lässt eine gute Bekannte, die Frau des vor dem Krieg im ganzen deutschen Sprachraum angesehenen Schriftstellers Georg Rendl, im Vertrauen wissen, ausreichende medizinische Versorgung sei in Weyer prinzipiell nicht vorgesehen. Selbst die anfänglich noch erlaubte Geburtshilfe durch eine Hebamme hat man inzwischen gestrichen, es regiert der Sparstift.
Doktor Alois Staufer ist in seiner Freizeit begeisterter Photograph und investiert viel in eine erstklassige Ausrüstung und modernes Filmmaterial. Einige Wochen später, die Seuche ist inzwischen abgeklungen, fertigt er an einem diesigen Tag Farbdiapositive der Weggesperrten an. Sie zeigen unter anderem den Wachturm und den graslosen Erdboden des Lagers, auf dem Frauen und Kinder hocken, sich für Gruppenbilder aufstellen, während die Männer bei der Zwangsarbeit sind.
Der Mediziner fängt aber nicht nur Trostlosigkeit ein. Er muss erwirkt haben, dass seine Motive, wohl an einem Sonntag, für eine weitere Photosession ein letztes Mal ihr bestes Gewand aus den rings um das Lagergelände abgestellten Wohnwagen holen dürfen. Heute strahlt zudem die Sonne von einem tiefblauen Himmel, Männer, Frauen, vor allem Kinder posieren mit dem, der Liebsten, mit Geschwistern, einem oder beiden Elternteilen. Auch Einzelaufnahmen entstehen, Seidenblusen, Perlenketten und Nadelstreifanzüge samt Fliege werden vorgeführt. Vor warmroten Ziegelwänden, die einmal verputzt waren, lächeln, grinsen manche der Porträtierten sogar, aber die verstörten Blicke anderer sprechen Bände, bilde ich mir ein. Immerhin, sträflich unterernährt scheint hier trotz des geringen Aufwandes für Lebensmittel niemand zu sein.
Es ist einigermaßen wahrscheinlich, dass auch Amalia Blach auf einer der vielen erhaltenen Photographien zu sehen ist. Ihr Gesicht bleibt mir, bleibt der Nachwelt dennoch unbekannt, namentlich zugeordnet können später nur noch verschwindend wenige der Abgebildeten aus Weyer werden. Denn nicht nur sie, sondern auch die allermeisten ihrer vorderhand durch einen glücklichen Zufall vielleicht noch auf freiem Fuß befindlichen oder in Gemeindekottern und anderen Zigeunerlagern wie jenem von Salzburg-Maxglan internierten Verwandten und Bekannten fallen in den folgenden Jahren dem Rassenwahn zum Opfer. Es wird also schlicht niemand mehr da sein, der diese Menschen identifizieren kann, als die Dias etliche Jahrzehnte später nach dem Ableben Doktor Staufers irgendwann an die Öffentlichkeit gelangen. Allein Amalias Familienname Blach findet sich dreiundzwanzigmal auf den Häftlingslisten von Weyer.
Irgendwann in den frühen Neunzehnfünfzigern, als der einundzwanzigste Geburtstag des theoretisch immer noch am Ort aufhältigen Mündels Amalia buchmäßig ansteht, nimmt ein dazu befugtes Amtsorgan im Bezirksgericht Wildshut das verstaubte Konvolut des zugehörigen Pflegschaftsaktes ein letztes Mal zur Hand und setzt einen formalen Schlusspunkt, indem es mit rotem Stift das Wort »großjährig« notiert.
Man muss, hat man solch ein Schriftstück ohne Zusatzinformation vor sich liegen, fast zwangsläufig den Eindruck gewinnen, die Ende 1941 Deportierten würden, obwohl amtswegig seither spurlos, irgendwo im Untergrund fröhlich weiterleben. Mir will scheinen, da wird entweder aus amtlichem Desinteresse, mag sein auch aus Unachtsamkeit, womöglich gar mit voller Absicht etwas für die falsche Statistik, für das unauffällige Vertuschen von schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit getan. Die seit ihrer Geburt schutzbefohlene Amalia Blach ist von der Republik Österreich eines schönen Spätfrühlingstages im tiefsten Frieden, am dritten Juni 1953, aus der staatlichen Vormundschaft entlassen worden. Alles bestens.
Dem Deutschen Reich hingegen diente der kleine, ausgemergelte Körper Amalias zuletzt als Dünger. Es ist verbürgt, dass die skelettierten Leichen der tausenden ermordeten Sinti und Roma aus den Massengräbern geholt und in einer eigens errichteten Knochenmühle nutzbringend verarbeitet wurden.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.