Freuden der Jugend. Denton Welch

Freuden der Jugend - Denton Welch


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zu und stopfte die Bettdecke an beiden Seiten fest unter die Matratze.

      »So, jetzt fühlst du dich gleich wieder gut«, sagte sie und gab ihm zwei von den Tabletten, die ihn bereits so fleckig gemacht hatten. Noch einmal versuchte sie, ihm durch sein dichtes Haar zu streichen, und wieder gab sie es lachend auf. »Struppig wie ein Foxterrier«, sagte sie. »Oder ein Strohdach, das in hundert Jahren keinen Tropfen Regen durchläßt.« Dann fügte sie etwas weicher hinzu: »Gute Nacht, mein Schatz« und ließ ihn allein.

      ›Schatz klingt eigentlich sehr nach Sex‹, fand Orvil. Er dachte an allerlei Wörter und die unterschiedlichen Empfindungen, die sie in ihm auslösten. Endlich schlief er ein.

      Orvil war freudig erregt, als er vor dem Haupteingang des Sanatoriums die große schwarze Limousine sah, in der sein Vater auf ihn wartete. Der Anblick war so unerwartet, daß es ihm schien, als habe eine gute Fee seine sehnsüchtigen Wünsche erhört.

      ›So groß hätte der Wagen gar nicht sein müssen für meine Flucht‹, dachte er. ›Aber die gute Fee läßt sich nicht lumpen. Sie würde mir nie einen Baby Austin schicken.‹

      Er rannte hinaus, und in der grellen Sonne wurde ihm schwindelig, und er spürte ein lästiges Ohrensausen.

      »Hallo, Daddy!«, rief er und hielt seinem Vater den Schlag auf. Orvil bekam seinen Vater nur alle drei Jahre einmal zu sehen, und er verband mit ihm kaum mehr als schwarze Limousinen und aufregende Mahlzeiten in Restaurants. Sie hatten sich sehr wenig zu sagen, und das einzige, was ihnen ein tiefes Bedürfnis gewesen wäre, durfte nicht angesprochen werden: Orvils Mutter war vor drei Jahren gestorben, und er wußte, das Gesicht seines Vaters würde schon bei der bloßen Erwähnung ihres Namens starr und abweisend werden und seine Stimme schroff und kalt und ärgerlich. Sie war so sehr geliebt und verehrt worden, daß man nie von ihr reden durfte. Es war geradezu widerwärtig, wenn man offen davon sprach, daß eine solche Frau einmal gelebt hatte. Es war so undenkbar, sie zu erwähnen, daß man zu kunstvollen Umschreibungen greifen mußte, wenn man von der Vergangenheit sprach.

      »Hallo, Mikrobe«, sagte Mr. Pym. So nannte er seinen Jüngsten schon seit jeher. Manchmal sagte er auch ›Made‹, doch gewöhnlich war es ›Mikrobe‹.

      »Geht es dir wieder besser?«, fragte er jetzt. »Du siehst immer noch ein bißchen fleckig aus.«

      »Ach, ich bin wieder ganz in Ordnung. Wollen wir jetzt gleich losfahren?«, drängte Orvil. Er beeilte sich, seine Reisetasche im Wagen zu verstauen, und er fühlte sich erst sicher, als sie das Dorf und die Gebäude des Internats weit hinter sich gelassen hatten.

      Der Chauffeur steuerte die große Limousine mit sicherer Hand die gewundene Landstraße entlang. Einige Augenblicke genoß Orvil seine Freiheit in vollen Zügen, doch dann machte er sich schon die ersten Sorgen, denn die Ferien hatten ja schon vor einigen Tagen begonnen, und jede Sekunde brachte ihn dem Anfang des nächsten Schuljahrs näher.

      Mr. Pym schlug vor, in Oxford zu übernachten und bei dieser Gelegenheit nachzusehen, ob Charles (sein ältester Sohn) noch da sei. Charles führte ein so unabhängiges Leben, daß er seinem Vater nie einen Brief schrieb und ihm mitteilte, wo er sich gerade aufhielt. Mr. Pym mußte es jedesmal selbst herausfinden.

      Charles war nicht da. Seine Wirtin sagte, er sei gegen Ende des Semesters mit zwei anderen jungen Herren zu einer Reise aufgebrochen. »Sie sind in seinem blauen Wagen weggefahren, der immer so fürchterlich knattert«, sagte sie und schnaubte verächtlich durch die Nase. Orvil haßte den blauen Bugatti seines Bruders fast so sehr, wie es die Wirtin zu tun schien. Besonders widerlich fand er die strammen Lederriemen über der gewölbten Motorhaube und das obszöne Auspuffrohr, das ihn immer an den gierigen Schlund eines Staubsaugers erinnerte.

      Orvil und sein Vater gingen zurück zum ›Mitre‹ und setzten sich unter dem Glasdach der Terrasse in Korbsessel. Mr. Pym bestellte Gin und französischen Vermouth für sich und einen Orangensaft für Orvil. Dann griff er wortlos zu einigen Zeitschriften, die auf dem Tisch lagen, und begann darin zu blättern. Orvil starrte traurig und enttäuscht vor sich hin. Sein Vater schaute hoch, nahm die aufgespießte Kirsche aus seinem Cocktail und hielt sie ihm hin, wie er es früher immer zu tun pflegte, als Orvil noch sehr klein war. Orvil nahm die grellrosa Frucht zwischen die Zähne und zog sie von dem dünnen Zahnstocher herunter, den sein Vater am anderen Ende festhielt. Er spürte den eigenartigen Geschmack von Alkohol und Sirup im Mund, und für einen Augenblick war er wieder acht Jahre alt, saß im Schlafanzug am offenen Kamin und trank seine heiße Milch, während sein Vater an dem Cocktail nippte und ihm vorlas, bis die Standuhr mit zwei Schlägen anzeigte, daß es halb acht war.

      ›Wie viele gin-getränkte Cocktailkirschen mag ich wohl gegessen haben, bis ich zehn war?‹, dachte er.

      »Gehn wir hinein zum Essen«, sagte Mr. Pym nach seinem dritten ›Gin-and-French‹ und erhob sich. Er ließ seinem Sohn den Vortritt in den Speisesaal. Orvil gefiel das.

      Einigermaßen verwirrt blieb er mitten im Raum stehen und sah sich die bunten Wappenschilde an den Wänden an, während er darauf wartete, daß sein Vater einen Tisch auswählte. Als er das Wappen vom College seines Bruders entdeckte, steuerte Mr. Pym gerade auf den Tisch neben einer alten Dame zu, die offenbar nichts als gekochte Eier aß. Die Schalen von zwei Eiern lagen bereits vor ihr auf dem weißen Tischtuch. Sie schnappte mit ihren Nußknacker-Lippen und machte gerade eine barsche Bemerkung zu dem jungen Kellner, der sich über sie beugte. Einmal zuckte ihre Hand zu ihrem Mund hoch, und Orvil sah, daß sich die Haut wie durchsichtige Gelatine über ihren Handrücken spannte. An einem Finger trug sie einen Ring mit einem sichelförmigen Aufsatz, der mit großen Diamanten besetzt war. Einen Ring, zu dem er sich weißlackierte Schlafzimmermöbel vorstellte, kunstvolle Arrangements von Rosen aus Seidenpapier, Rohrstühle, Paneele mit Einlegearbeiten, silberne Schuhlöffel und Spangen und Engelsgesichter von Reynolds auf den oxydierten Deckeln von Puderdosen.

      Orvil beobachtete sie verstohlen, während er seine Tomatensuppe löffelte, zu der er eine Menge Melba-Toast aß. Danach gab es gebratene Ente mit Orangensalat, Kartoffelbrei und Sahnespinat. Sahnespinat erinnerte ihn immer an etwas. Er versuchte sich dagegen zu wehren, doch jedesmal, wenn er Spinat auf einem Teller sah, mußte er wieder daran denken: Auf einer Wiese voll Butterblumen war er einmal in einen Kuhfladen getreten. Er hatte heruntergeschaut auf seinen Fuß, der durch die Kruste gebrochen war und in einer saftigen dunkelgrünen Masse steckte. ›Was für eine wundervolle Farbe‹, hatte er gedacht. ›Wie grüner Samt oder Jade. Oder Sahnespinat.‹

      Jetzt, als ihm der Kellner den Spinat auf den Teller schöpfte, sah er das Bild wieder vor sich. ›Ich esse Kuhfladen, ich esse einen Kuhfladen!‹, sagte er sich immer wieder.

      »Was möchtest du zum Nachtisch?«, fragte sein Vater. Er war ein Mensch, der am liebsten anderen beim Essen zusah. Er selbst hatte sich diesmal nur saftige schwarze Pilze auf Toast bringen lassen. Die Pilze mit ihren eingedrückten Lamellen wirkten wie geschrumpfte Skalps von Orientalen.

      Orvil studierte die Speisekarte.

      »Ich möchte Pêche Melba«, sagte er.

      »Aber es wird kein frischer Pfirsich sein«, gab ihm sein Vater zu bedenken.

      »Ich glaube, ich habe noch nie eine Pêche Melba mit frischen Pfirsichen gegessen«, sagte Orvil nachdenklich. »Es sind immer große gelbe Pfirsichhälften aus der Dose.«

      »Ich weiß. Das ist es ja. Sie machen es nie richtig. Sie sollten es lieber sein lassen, wenn sie keine frischen Pfirsiche dazu nehmen wollen.« Mr. Pym schien sehr verärgert zu sein. Dabei wußte Orvil, daß nichts auf der Welt seinen Vater dazu bringen konnte, selbst einmal Pêche Melba zu essen.

      »Aber frische Pfirsiche kosten in England manchmal eine halbe Krone das Stück, oder mehr«, sagte Orvil zur Verteidigung der guten britischen Pêche Melba aus der Dose.

      Sein Vater schwieg dazu und widmete sich jetzt einem Whisky Soda.

      Die Pêche Melba wurde serviert, mit ihrer dicken roten zähflüssig herablaufenden Escoffier-Sauce. Die beiden Hälften waren wieder zusammengefügt worden, so daß sie wie ein Paar schweißglänzende Hinterbacken aussahen. ›Wie der Hintern einer Schlafpuppe aus Zelluloid‹,


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