Freuden der Jugend. Denton Welch

Freuden der Jugend - Denton Welch


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standen auf und gingen hinunter zum Tee. Anschließend ging Mr. Pym mit ihnen in eine Apotheke und ließ sich für Ben eine Nagelsalbe geben. Orvil fühlte sich noch leicht benommen von dem verschlafenen Nachmittag, und als ein Lippenstift vom Ladentisch rollte, bückte er sich und steckte ihn ein, noch ehe ihm recht bewußt wurde, was er tat.

      Als sein Vater ihn fragte, was da heruntergefallen sei, gelang es ihm, leichthin zu sagen: »Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, es war ein Lippenstift. Er ist direkt unter den Ladentisch gerollt.« Im Hinausgehen sah er aus den Augenwinkeln, wie die Verkäuferin auf allen vieren um den Ladentisch kroch und darunter herumtastete.

      Im Foyer des Hotels sah ein drahtiger Mann mit Hakennase von seiner Zeitung hoch, stand auf und kam ihnen mit ausgestreckter Hand entgegen.

      »Hallo, Pym!«, sagte er. »Was für eine nette Überraschung!«

      Mr. Pym kannte den Mann aus Fernost. Es war eine flüchtige Bekanntschaft, und sie hatten einander seit Jahren nicht mehr gesehen, doch jetzt schüttelten sie einander sehr freundschaftlich die Hand.

      Auch der Mann, wie sich herausstellte, war nach Salisbury gekommen, weil sein Sohn im O. T. C. Camp war. Sein Vaterstolz war so übertrieben, daß er lächerlich wirkte. Aufgeregt erzählte er eine kleine Anekdote nach der anderen. Er verdrehte die Augen und zeigte sein hübsches neues schneeweißes Gebiß. Er schilderte die wagemutigen Taten seines Sohnes und hob immer wieder dessen attraktive Erscheinung hervor. Abschließend sagte er in einem humorvollen Cockney-Akzent, der jedoch die Ernsthaftigkeit der Bemerkung nicht überdecken konnte: »Ich sollt’ vielleicht nicht damit angeben, aber Jim ist einfach ein bemerkenswert prächtiger Bursche.«

      Orvil fand das sehr erstaunlich. Er hatte nie gedacht, daß Väter imstande wären, über ihre Söhne anders als mit kühler Nachsicht oder einigem Unmut zu reden. Er war plötzlich neidisch auf diesen unbekannten Jim, und um das Gefühl loszuwerden, sagte er sich, daß das Getue des Mannes alle beide recht lächerlich aussehen ließ.

      Sie verabschiedeten sich jetzt, um in den Speisesaal zu gehen, und als sie die Tür erreichten, geschah das, was Orvil die ganze Zeit erwartet hatte – der Mann wandte sich noch einmal an Mr. Pym und sagte hastig: »Ach übrigens, es hat mir schrecklich leid getan, als ich hörte, daß Ihre –«

      Mr. Pym brachte ihn abrupt zum Schweigen, ehe er es aussprechen konnte.

      »Es war am besten so«, sagte er mit Nachdruck. »Sie hätte sonst als hilfloser Krüppel weiterleben müssen, und Sie können sich wohl denken, was sie davon gehalten hätte.« Er sagte es in einem merkwürdig anzüglichen und gemeinen Tonfall. Der Mann verdrückte sich daraufhin mit hochrotem Gesicht und wünschte sich wohl, er hätte sich nicht zu dieser Bemerkung gezwungen, die ohnehin nicht aufrichtig gemeint war.

      Ein sehr altmodischer Kellner mit Plattfüßen und schütterem Haar geleitete sie an einen Tisch. Er hatte eine fettige Serviette über dem Arm. Orvil betrachtete ihn wie ein Fossil im Museum. Er wollte nicht daran denken, daß es ein Mensch war, sonst hätte ihm das Essen nicht mehr geschmeckt. Etwas unendlich Unglückliches quoll aus dem Kellner in Wellen heraus, und Orvil stemmte sich dagegen und versuchte, sich auf die Speisekarte zu konzentrieren.

      Ben ließ sich ein Bier bringen. Eigentlich hätte er lieber einen Whisky Soda getrunken, doch er sagte sich, daß das für einen Jungen von siebzehn Jahren dumm und anmaßend wäre. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für das, was sich schickte, und daran hielt er sich eisern.

      Nach dem Essen gingen sie hinaus zum Wagen. Orvil setzte sich nach vorn zum Chauffeur, der sehr mürrisch und verärgert war. »Aber wollen Sie denn nicht auch das ›Tattoo‹ sehen?«, fragte er, um ihn ein bißchen aufzutauen.

      »Alles schön und gut, aber ich hatte etwas anderes vor«, sagte der Chauffeur mit wichtiger Miene. Er hatte bisher jeden Abend freigehabt, um in den Pubs zu trinken und Frauen aufzugabeln. Auf diese liebe Gewohnheit mußte er nun verzichten und trauerte seiner verlorenen Freiheit nach. Den Frauen von Salisbury würde es an diesem Abend versagt bleiben, seine Bekanntschaft zu machen, es sei denn, er konnte beim ›Tattoo‹ eine finden. Nun, vielleicht würde er Glück haben. Er stellte sich vor, mit ihr im Gras zu liegen und die nassen Halme unter den Händen zu spüren und sein verschwitztes Gesicht darin zu kühlen.

      Orvil sah ihn von der Seite an und dachte an die Mädchen in Liebesromanen, die mit dem Chauffeur ihres Vaters durchbrannten. Er konnte verstehen, was daran so reizvoll war. Es hatte nicht soviel mit dem Chauffeur selbst zu tun (dieser hier zumindest war fleischig und rosig wie ein Schwein) – nein, es war der Rausch der Geschwindigkeit; die Uniform, die einem das Gefühl gab, von einem mysteriösen Offizier einer fremden Armee entführt zu werden; das Abenteuer, mit einem Mann allein zu sein wie auf einer einsamen Insel; und das berauschende Gefühl, einem langweiligen behüteten Leben zu entrinnen.

      Der Wagen hielt, und sie mußten eine Weile im Dunkeln durch morastiges Gelände irren, bis sie die Zuschauertribüne erreichten und ihre Plätze einnehmen konnten.

      Das Tattoo hatte noch nicht begonnen. Nur ein einziger Scheinwerfer war eingeschaltet, und in seinem Lichtkegel stand ein korpulenter Mann, der die Zuschauer zum Singen animierte. Er ruderte mit den Armen, und der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Aus der großen Menschenmenge kam nur ein schwaches Echo. Der Mann verausgabte sich, als sei er von Sinnen, und wenn er den Oberkörper zurückbeugte, quoll sein Bauch so stark hervor, daß es aussah, als werde er gleich platzen. Orvil stellte sich vor, wie ihm die dampfenden Eingeweide heraushängen würden, und er erschauerte bei dem Gedanken an den scheußlichen roten Fleck, der sich auf Hemd und Hose des ganz in Weiß gekleideten Mannes ausbreiten würde. Der Bauch schwang wie eine riesige pralle Schweinsblase bedenklich hin und her. Der Mann hatte sich das Hemd fast bis zum Nabel aufgeknöpft, und die schwabbeligen Fettwülste um die Brustwarzen hüpften auf und nieder wie die Brüste eines jungen Mädchens. Wenn der Mann eine ausholende Bewegung mit den Armen machte und das Hemd weit auseinanderklaffte, konnte Orvil sie deutlich sehen. Wie zwei Portionen Pudding oder Götterspeise, die plötzlich lebendig wurden. Orvil fand den Anblick so lustig und grotesk, daß er fast herausgelacht hätte.

      Jetzt ertönten dumpfe Trommelschläge, und der Gesang brach ab. Scheinwerfer gingen an und leuchteten eine Ecke des großen Platzes aus.

      Zuerst konnte Orvil nichts erkennen, doch dann sah er aus der Dunkelheit eine weiße Ziege auftauchen. Sie bekam in den Strahlen der Scheinwerfer eine gespenstisch grünliche Färbung, und hinter ihrer winzigen Gestalt wogte ein gewaltiger Aufmarsch von Musikzügen heran.

      Orvil fand, daß er selten ein so überwältigendes Schauspiel gesehen hatte. Er konnte sich nicht sattsehen an den stattlichen Tambourmajoren, die ihre silberglänzenden Stäbe in die Luft warfen, und an den Gladiator-Gestalten in Leopardenfellen mit ihren umgehängten Baßtrommeln, die so groß wie Wagenräder waren. Der Marschtritt und die rhythmischen Klänge brandeten über den weiten Platz heran. Es war ein berauschendes Erlebnis. Vorneweg trippelte diese gespenstische kleine Ziege, deren weiße Mähne im Winde wehte, und Hunderte von Männern in protzigen scharlachroten Uniformen mit goldenen Tressen und Pelzmützen schritten folgsam hinter ihr her.

      Beim Anblick dieses Schauspiels mußte Orvil unwillkürlich an die üblen Witze denken, die sich die Jungs im Internat so oft mit Ziegen leisteten. Immer wieder dachten sie sich groteske Vorfälle aus, in denen es um Ziegen ging. Und jetzt stellte er sich plötzlich vor, die Ziege auf dem großen Platz werde von dem ganzen Regiment schändlich mißbraucht – sie waren alle verrückt geworden, sie schändeten ihr Maskottchen und würden es zertrampeln, bis es tot am Boden lag.

      »Nicht daran denken, nicht daran denken«, sagte er sich verzweifelt, doch es gelang ihm nur mit Mühe, sich wieder auf die wirkliche Szene vor seinen Augen zu konzentrieren.

      Die Musikzüge marschierten jetzt aus dem Lichtkegel. Abrupt schwangen die Scheinwerfer herum und illuminierten die andere Seite des Platzes. Man sah eine schlammfarbene Stadtmauer mit Tor. Seltsame Gestalten in arabischen Gewändern ließen sich von der Mauer fallen, als seien sie von Kugeln getroffen worden. Andere versuchten einen Ausbruch, doch auch sie fielen bald um und wälzten sich schreiend am Boden. Die britischen Truppen mit ihren viktorianischen Helmen rückten unaufhaltsam vor. Weiße Rauchwölkchen


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