Freuden der Jugend. Denton Welch

Freuden der Jugend - Denton Welch


Скачать книгу
nahm sein Handtuch und machte sich auf den Weg zum Badezimmer am hinteren Ende des Flurs. Neben der Tür hing ein Münzautomat, aus dem man verschiedene Sorten Pillen und Tabletten ziehen konnte: Aspirin, Chinin, Cascara Sagrada. Er hatte jetzt Geld, denn am Tag zuvor hatte sein Vater all sein Kleingeld hervorgeholt und ihm in die Hosentasche gesteckt, als sie dicht nebeneinander im Fond des Wagens saßen. Orvil, schläfrig von der monotonen Fahrt, war nervös zusammengezuckt, als fürchte er eine unsittliche Berührung. Doch dann hatte er die harten Münzen gespürt, die gegen seinen Schenkel drückten.

      Er ging zurück in sein Zimmer und holte sich drei Sixpence-Stücke. Er steckte sie nacheinander in die drei Schlitze und nahm unten die kleinen Schachteln heraus. Während er das Wasser einließ und der Raum sich mit Dampf füllte, las er sich die Instruktionen durch. Dann nahm er aus jedem Röhrchen eine Tablette ein und räkelte sich in seinem Badewasser. Bald danach fühlte er sich besser – sehr friedlich und wohlig.

      Nach dem Frühstück verirrte er sich auf dem Rückweg zum Zimmer. Im Gewirr der Korridore stieß er schließlich auf ein Zimmermädchen. Die kleine adrette Person machte einen netten Eindruck und wirkte intelligent und sehr fraulich. »Haben Sie sich verlaufen, Sir?«, fragte sie mitfühlend. Es war ein angenehmes Gefühl, mit ›Sir‹ angeredet zu werden. Doch zugleich fühlte er sich ertappt und beschämt. »Ja«, sagte er, »ich muß irgendwo falsch abgebogen sein.«

      »Dieses alte Haus ist ein richtiges chinesisches Puzzle, nicht?«, sagte sie und lachte. Orvil fand das eine sehr einfallsreiche und gescheite Bemerkung. Er hatte den Ausdruck ›chinesisches Puzzle‹ noch nie gehört. Plötzlich sah er das Hotel als ein schreckliches Labyrinth, in dem irgendwo im Dunkeln der Minotaurus auf ihn wartete.

      An diesem Tag fuhren sie nach Salisbury. Ben, Mr. Pyms zweitältester Sohn, war außerhalb der Stadt in einem Ausbildungslager des Officers’ Training Corps seiner Schule.

      Sie hielten vor einem Hotel und ließen ihr Gepäck hineinbringen. Dann fuhren sie aus der Stadt. Mr. Pym sagte dem Chauffeur, er solle fahren, bis er weiße Zelte sehe. Orvil entdeckte sie als erster. Der Chauffeur fuhr darauf zu, mußte aber feststellen, daß er die Landstraße nicht verlassen konnte: Der Feldweg, der zum Camp führte, war völlig aufgeweicht und bestand nur noch aus Schlamm.

      Mr. Pym und Orvil stiegen aus und begannen schweigend durch den Schlamm zu stapfen. Sie fühlten sich etwas schuldbewußt, doch zugleich waren sie auch froh, daß sie dieses Lagerleben nicht ertragen mußten. Obwohl etwas in ihnen sich doch heimlich danach sehnte.

      Plötzlich kam ihnen Ben entgegen. Er war sehr verschwitzt und schlecht gelaunt, bot aber dennoch eine stattliche Erscheinung. Er war offensichtlich im Dienst, denn er trug verdreckte Arbeitshosen und schleppte zwei randvolle Bottiche aus der Latrine, die er bei jedem Schritt wütend überschwappen ließ. Als er seinen Vater und Orvil erblickte, setzte er die Bottiche mit einem Ruck ab und stand einen Augenblick entgeistert da. Dann lachte er laut heraus, und die Situation war gerettet. Die anderen beiden liefen auf ihn zu, um ihn zu begrüßen, doch er hob abwehrend die Hände und rief: »Kommt mir nicht zu nahe, sonst fallt ihr in Ohnmacht.«

      Der Gestank aus den Bottichen war in der Tat überwältigend. Orvil fühlte sich merkwürdig hin- und hergerissen zwischen Ekel und Faszination. Er hätte am liebsten mit einem Stecken in der Brühe herumgerührt, die Kotklumpen aufgespießt und hoch in die Luft geworfen. Doch sein zweites Ich – ein sehr feminines, auf Reinlichkeit bedachtes Ich – wehrte sich heftig gegen eine solche Vorstellung und gab ihm sogar ein, daß sein frischer, sauberer, gutaussehender Bruder nun für immer mit einem Makel behaftet sein würde, nie mehr zu trennen von dem ekelhaften Zeug, mit dem er hier umging.

      Mr. Pym vereinbarte mit Ben, daß dieser nach Salisbury kommen solle, wenn sein Dienst vorüber war. Nach einem gemeinsamen Abendessen würden sie dann alle zum ›Searchlight Tattoo‹ gehen.

      Orvil sah sich noch einmal um nach seinem geliebten Bruder, der unter seiner schmutzigen Hülle immer noch so charmant und weiß und sauber wirkte. Mit zorniger Beharrlichkeit versteifte er sich darauf, wie gut sein Bruder aussah, um das Bild von ihm auszulöschen, wie er diese beiden Bottiche schleppte.

      Im Hotelzimmer legte sich Orvil auf das Bett und versuchte, ein wenig zu schlafen. Die Cascara-Sagrada-Pille hatte zu wirken begonnen, und überdies fühlte er sich niedergeschlagen und elend. ›Wenn ich doch nur sterben könnte!‹, dachte er. Oder wenn er nur frei und unbeschwert sein könnte, aber zugleich mit allen Rechten eines Erwachsenen. Mit ein bißchen Geld, einem kleinen Zimmer und mit einer Arbeit, die ihm Freude machte. Wenn doch nur seine faszinierende Mutter mit dem sonnengebräunten Teint aus ihrem Grab auferstehen und zu ihm zurückkommen könnte, in ihrem merkwürdig unansehnlichen rotgrün gemusterten Tartankleid mit dem glänzenden Gürtel, den sie im Modegeschäft einer Bekannten gekauft hatte. Wenn er ihr die Ringe wieder über die Finger streifen könnte und ihre Augenbrauen nachziehen mit der winzigen schwarzen Bürste, wie er es immer so geschickt getan hatte.

      Im Halbschlaf sah er es jetzt vor sich. Seine Mutter schwebte aus dem Grab herauf. Doch sie trug nicht das rotgrün gemusterte Kleid, sondern ein zerdrücktes pfirsichfarbenes Nachthemd, ihre Augen waren geschlossen, ihr goldglänzendes toastfarbenes Haar filzig und plattgedrückt von Erdklumpen. Erde krümelte aus ihren leeren Augenhöhlen, und dann sah Orvil mit Entsetzen, wie ein Stück von ihrem Gesicht abfiel und in der Spalte zwischen ihren Brüsten verschwand – es war ihre Nase, die ihr abgefault war!

      »O Darling! O Darling!«, rief er. Er wußte nicht, wie er das Grauen dieses immer wiederkehrenden Angsttraums ertragen sollte. Immer sah er, wie sie krampfhaft versuchte, sich aus dem Grab zu befreien. Bis ihm wieder einfiel, daß sie ja eingeäschert worden war. Und dann sah er ihren halb verkohlten Leib in den Flammen und hörte sie gellend schreien.

      Er erinnerte sich an den Nachmittag, als sie ihn mit ihrer Haarbürste geschlagen hatte. Sie hatte ihn durchs ganze Badezimmer gejagt und schließlich unter dem hellblauen Waschbecken zu fassen bekommen, und dann hatte sie begonnen, heftig auf ihn einzuschlagen. In ihrem Zorn vergaß sie, die Bürste umzudrehen. Sie schlug blindlings auf ihn ein, und er spürte, wie ihm die Borsten in die Haut stachen. Als sie erneut zuschlug, versuchte er, sich zu wehren. Plötzlich stolperten sie mitten im Badezimmer im Kreis, rissen einander an den Kleidern und fuchtelten wütend mit den Fäusten. Fast war ihnen jetzt nach Lachen zumute, doch der Zorn war stärker.

      Am Abend, als sie einander verziehen hatten und sie zu ihm ins Bad kam, um ihm den Rücken zu schrubben, machte er sich steif und wollte sich nicht umdrehen. Sie sollte nicht die purpurnen Male der harten Borsten auf seinem Hintern sehen.

      Die Tür wurde leise geöffnet, und Ben kam herein. In seinem Halbschlaf dachte Orvil für einen Augenblick, ein gutaussehender Fremder habe aus Versehen die falsche Tür geöffnet, denn Ben trug seine Uniform mit den blanken Messingknöpfen, und sein weißblondes Haar schimmerte wie Fischleim.

      Ben legte sich neben ihn auf das Bett und begann zu erzählen. Orvil hörte, wie draußen Wassertropfen in großen Abständen aus der verstopften Dachrinne nach unten auf die Steinplatten fielen. Er lauschte und wartete, bis es wieder plop machte, und er hörte nur mit halbem Ohr auf die Geschichten, die sein Bruder vom Leben im Camp erzählte.

      Ben berichtete von den Ölsardinen, die ranzig und schlecht geworden waren, weil man die Dosen schon Stunden vor dem Abendessen aufgemacht hatte; von dem Jungen, den man bewußtlos unter seinem zusammengefallenen Zelt hervorzog; von den Burschen, die Schweißfüße hatten und die ganze Nacht schnarchten; von den aufregenden Nachtübungen, wo man stundenlang dicht an dicht in dunklen Schützengräben lag. Die letzte Geschichte handelte von einem armen Kerl, den sie mit einem schweren Kochlöffel so lange auf den Kopf schlugen, bis ihm hellgrüner Schleim aus dem Mund lief.

      Ben lachte glucksend in sich hinein und genoß seine Schauergeschichten in vollen Zügen. Er war ein gutherziger Mensch, doch er konnte sich nur so richtig freuen, wenn er von wüsten Dingen erzählte.

      Jetzt hielt er die Hand hoch. An einem Fingernagel war die Nagelhaut aufgerissen.

      »Was kann ich dagegen tun?«, fragte er. »Es zieht und schmerzt jedesmal, wenn ich etwas anfasse.«

      Orvil sah es sich an. Es schien ihm


Скачать книгу