Freuden der Jugend. Denton Welch

Freuden der Jugend - Denton Welch


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leckte ein wenig rote Soße vom Löffel und verteilte sie mit der Zunge im Mund. Sie hatte einen leicht metallischen Geschmack. Sein Vater sah ihm geduldig und zufrieden zu, bis das letzte Stück Pfirsich verschwunden war. Dann standen sie beide auf und gingen wieder hinaus zu den Korbsesseln auf der Terrasse.

      »Du gießt ein«, sagte Mr. Pym, als der Kaffee gebracht wurde. Und erneut, wie schon beim Eintritt in den Speisesaal, war Orvil erfreut, daß ihm sein Vater das Gefühl gab, wichtig zu sein.

      Mr. Pym trank seinen Kaffee schwarz, mit drei Stückchen Würfelzucker in der winzigen Tasse. Dann lehnte er sich zurück und nickte ein. Orvil studierte die feinen geplatzten Äderchen auf der Nase und den Wangen seines Vaters. Er fragte sich, ob sein Vater wieder Opium geraucht hatte. Er vermutete das jedesmal, wenn sein Vater plötzlich einschlief. Zwar hatte er über Opium nichts Näheres in Erfahrung bringen können, doch er wußte, daß sein Vater es manchmal rauchte, denn dieser hatte einmal mit deutlich gekünstelter Beiläufigkeit gesagt: »Ein Bursche in Java schlug eines Abends vor, wir sollten jeder eine Pfeife rauchen; aber von dem Zeug wurde mir nur übel, deshalb habe ich es nie mehr angerührt.«

      Sooft er mit seinem Vater zusammen war, hatte Orvil seither darauf geachtet, ob er einen Hauch von Opium erhaschen würde. Er kannte den Geruch, denn als er neun Jahre alt war, hatte ihm seine Tante, die seine Vorliebe für ausgefallene Geschenkartikel kannte, ein altes chinesisches Opiumkästchen geschenkt. Die Droge hatte das Elfenbein des Kästchens kastanienbraun verfärbt. Als Orvil den Deckel aufklappte, drang ein ganz ungewohnter Duft heraus, der so unverkennbar war, daß er ihm unvergeßlich blieb. Klebrige braune Reste von Opium bedeckten noch die Seiten und den Boden des Kästchens. In den Ferien, wenn er zu dem Wandbord mit seinen kleinen Schätzen zurückkehrte, klappte er jedesmal als erstes das Kästchen auf und sog den eigenartigen Opiumgeruch ein.

      Noch einmal sah er jetzt seinen Vater an. Er wollte gern zu Bett gehen und fragte sich, ob er seinen Vater aufwecken sollte. Eigentlich hätte er ihn lieber schlafen lassen, doch er fürchtete, Mr. Pym könne im Schlaf etwas tun, was ihn vor den anderen Hotelgästen blamieren würde – rülpsen oder schnarchen oder fluchen. Oder vielleicht würde er schreckliche Familiengeheimnisse preisgeben in jener außerordentlich beunruhigenden Stimme, wie sie Leute haben, die im Schlaf reden.

      Er faßte ihn leicht an der Schulter und sagte: »Ich geh jetzt schlafen, Daddy.«

      Mr. Pym öffnete die Augen. Für einige Sekunden waren sie glasig wie die Augen eines toten Dorschs. Dann nahmen sie ihn wahr, und Mr. Pym sagte: »Gute Nacht, Mikrobe. Schlaf gut. Laß dich nicht von den Flöhen piesacken.«

      Orvil verbrachte eine unruhige und sehr merkwürdige Nacht. Mehrmals verspürte er das starke Verlangen, etwas Verbotenes an sich zu tun, doch jedesmal widerstand er und kam sich sehr willensstark und gut vor, als habe Gott ihm übermenschliche Kräfte verliehen. Seine Träume waren wundersamer und erschreckender als gewöhnlich. In einem dieser Träume lag er in einer riesigen offenen Wunde. Es war sehr behaglich in dem daunenweichen Fleisch, aus dem sachte das Blut gluckste. Doch er wußte, schon das leiseste Wimperzucken würde dem Riesen, in dessen klaffender roter Brustwunde er lag, entsetzliche Schmerzen bereiten. In einem anderen Traum schwebten Diamanten von grotesken Ausmaßen an langen goldenen Fäden. Sie hatten das Aussehen von Sonnenblumen, und Orvil war ein kleines Kind, das man unter den künstlichen Blütenblättern dieser Blumen ausgesetzt hatte. Ein heftiger Wind erfaßte die Diamanten, so daß ihm die Zacken ins Gesicht schlugen. Wie glitzernde schauerliche Fußbälle aus Eis flogen die Riesendiamanten gegen seinen Kopf und rissen ihm das Fleisch ab, bis seine Augen voll Blut waren und seine Schädelknochen vibrierten und dröhnten.

      Beim Erwachen hörte er sich das Liebeslied von Thais singen. So nannte er es jedenfalls, seit er es bei einem seiner Lehrer auf dem Grammophon gehört hatte. Er hatte damals zunächst nicht weiter auf die Platte geachtet, doch sein exzentrischer Lehrer, dem seine getönten Brillengläser ein fast dämonisches Aussehen verliehen, war im Zimmer auf und ab gegangen, hatte ihm mit eindringlichen Worten einiges über die Aufnahme erzählt und sie ihm anschließend noch einmal vorgespielt.

      Der Anlaß hatte sich ergeben während einer eigenartigen Teeparty, die der Lehrer für seine Französisch-Klasse gab. Orvil erinnerte sich noch gut an das einsam gelegene Haus, das fast unbewohnt wirkte, das Eßzimmer mit der niedrigen Decke, den Hausboy in Pfadfinder-Uniform, die großen fettdurchweichten Doughnuts mit angekrustetem Zucker, die klobigen Tassen (groß wie Baby-Pötte) und die papierdünnen alten Teelöffel, die neben den massiven Untertassen recht verloren aussahen.

      Diese Löffel waren ihm besonders in Erinnerung geblieben, denn es waren wunderschöne Exemplare aus der frühen viktorianischen Zeit, vorne wie Muscheln geformt, und die Stiele mit Wappen verziert. Wie sehr hatte er sich gewünscht, so einen Löffel zu besitzen. Doch er hatte nicht den Mut gehabt, einen verschwinden zu lassen …

      Orvil sprang aus dem Bett und stellte sich vor den Spiegel. Er fürchtete, daß er jetzt, mit fünfzehn, im Begriff sei, sein gutes Aussehen zu verlieren. »O Gott, laß mich keinen Stimmbruch kriegen und laß mir keine Bartstoppeln wachsen«, hatte er in letzter Zeit öfter gebetet. Doch Gott hatte ihn nicht erhört. Beim Singen war ihm die Stimme in den hohen Lagen umgekippt, und als er jetzt sein Gesicht im Spiegel sah, mußte er feststellen, daß ihm schon wieder goldene Härchen entlang der Oberlippe sprossen. Erst vor einem Monat hatte er sie mit einem Rasiermesser, das er auf dem Dachboden seiner Tante gefunden hatte, heimlich abrasiert. Sein Onkel war Pfarrer, und die Leute aus der Gemeinde brachten der Tante immer ihren alten Kram für den nächsten Trödelmarkt. Sooft Orvil im Pfarrhaus zu Gast war, stieg er auf den Dachboden, wo das Zeug aufbewahrt wurde, und bediente sich. Seine Tante wußte nichts davon. Er sah sich mit den entwendeten Sachen immer vor und versteckte sie gut.

      Bei seinem letzten Besuch hatte er das altmodische Rasiermesser entdeckt und einen jener Apparate, die Cricketspieler unter der Hose tragen, um ihre Weichteile zu schützen. Er hatte sich gewundert, daß jemand auf die Idee gekommen war, so etwas bei seiner Tante abzugeben. Es mußte wohl eine Frau gewesen sein, die nicht wußte, wozu der Gegenstand diente. Er selbst hatte es auch nicht gewußt und erst einen seiner Lehrer danach fragen müssen.

      Er war mit den beiden Dingen nach unten in sein Zimmer gerannt und hatte den ausgebeulten Lederschutz angelegt. Er war ihm viel zu groß und fühlte sich an wie eine harte Hand zwischen seinen Schenkeln. Das Ziegenleder war blankgescheuert und schwarz von Schweiß. Er hatte sich damit vor den Spiegel gestellt und mit dem alten Rasiermesser den Flaum von der Oberlippe geschabt.

      Dann, ohne den Lederschutz abzunehmen, hatte er sich angezogen und war nach unten gegangen. Im Gespräch mit seiner Tante und seinen Vettern hatte er ein heimliches Gefühl der Erregung und Befriedigung gespürt und sich sehr sicher und überlegen gefühlt.

      Das Rasiermesser hatte er mit ins Internat genommen und während des letzten Schuljahrs zweimal benutzt – in der Toilette im Obergeschoß, die als einzige eine abschließbare Tür hatte. Er hatte sich auf den Toilettensitz gestellt und das Rasiermesser in den Wasserkasten getaucht, und dann hatte er sich rasiert, wobei er mit einem nassen Finger erst sorgfältig an der Oberlippe entlangstrich, ehe er das Rasiermesser ansetzte.

      Jetzt, als er sein Gesicht im Spiegel betrachtete, überlegte er, ob er sich schon wieder rasieren sollte. Er hatte Angst, daß die Härchen durch ständiges Rasieren stärker und dicker würden. Andererseits bereitete es ihm jedesmal Vergnügen, wenn er sie abrasierte. Er beschloß, es an diesem Morgen sein zu lassen. Er sagte sich, daß das bißchen Flaum keinem auffallen würde.

      Er versuchte sich auch einzureden, daß niemand die schwarzen Ringe unter seinen Augen bemerken würde. Im Spiegel waren sie allerdings so überdeutlich, daß er kaum sein übriges Gesicht sah. Die Boys im Internat hatten ihn gelegentlich damit aufgezogen und ihn mit einem beziehungsvollen Unterton gefragt: »Du siehst heute morgen wieder so mitgenommen aus, Pym – was hast du denn wieder getrieben?«

      Er wußte, worauf sie anspielten, und er zitterte jedesmal vor rechtschaffener Empörung. Er konnte gegen die Ringe unter seinen Augen einfach nichts tun. Seine Ängstlichkeit und Aufgeregtheit hielt ihn nachts oft wach. Hinzu kam, daß er empfindliche Augen hatte, die sehr rasch ermüdeten.

      Er hoffte, daß andere dies erkennen


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