Die Forelle. Leander Fischer
das wäre verchromter Darm, wollte die Bratze nicht mehr spielen und nannte mich Barbar. Ernstl hieß mich hin und wieder, der Goldkopfnymphe zusätzlich einen Rehhaarschwanz anzubinden, mal ließ er es, doch ständig deklamierte er, »aber Vorsicht, Salmoniden beißen zart. Erst bloß, um zu testen. Wie Säuglinge. Die haben mehr Gefühl am Gaumen als in den Händen. Die nehmen statt zu tasten die Dinge in den Mund. Wenn der Schwanz der Fliege zu weit über den Hakenbogen vorsteht und die Forelle sich von hinten nähert, erwischt sie zwar die Schwanzspitze, den Haken jedoch nicht, und wir sind gearscht.« Das pubertierende Mädchen tauchte auch die nächsten drei Mittwoche nicht auf und wollte offenbar nie wieder eine ohnehin bloß von der Musikschule geborgte dreiviertel Übungsgeige anfassen. Weil es so unerhört schade um das nun brachliegende Talent dieses pubertierenden Mädchens war, sah ich am vierten Mittwoch schon die überaus adrette Mutter mit Sonnenbrille, schwarzer Federboa um die champagnercremefarbenen Schultern und Witwenhut über der puderweißen Nase in mein Unterrichtskämmerchen stolzieren und mir ins Gesicht spucken, vor meinem inneren Auge zumindest, woraufhin ich nur sagte, Hahnenfedern, oder, und der Lippenstift, Tran von Moby, nicht wahr, blutleer wäre der. Doch ich blieb allein in meinem Unterrichtszimmer, schloss anschließend die Musikschultüren ab, fuhr zu Ernstl, der mich längst wie selbstverständlich am Windfang in Empfang nahm, sperrte später die Wohnung auf und legte mich nachts neben Lena wieder, die noch wachte. Auf ihren Vorschlag hin rief ich am fünften Mittwochvormittag bei der Pubertierenden zu Hause an. Statt der Eltern ging die Tochter dran. Natürlich schwänzte das Luder die Schule. Und selbstverständlich erzählte ich ihr, sie sei zu gut, um dem Unterricht so lange fernzubleiben, außerdem gelte für diese von der Musikschule zur Verfügung gestellten Leihinstrumente nicht, was ich über Sehnen und Bogenhaare gesagt hatte, das treffe nur auf höchstklassige Konzertviolinen zu, im Falle dieser ihrer Geige handle es sich um Kunststoffimitate. Und, fügte ich noch am Telefon hinzu, sie solle, um das Versäumte nachzuholen, bis zur nächsten Stunde versuchen, die ersten und zweiten drei Viertelnoten triolisch zu spielen, die nächsten zwei Viertelnoten allerdings gerade, undsofort. Wenn es helfe, solle sie Silben zählen, »Ka-me-run, Ka-me-run, Cey-lon«, beispielsweise, oder »E-ben-holz, E-ben-holz, teak-schwarz«, oder »Mis-sou-ri, Mis-sou-ri, Lon-don«. »Streunerin«, sagte Ernstl, »da hilft nur ertränken.«
Wenn wir auf die Wiese gingen, durfte ich seine Fliegenfischstange tragen. »Das Servieren ist schon das grundlegende Erlebnis«, ich führte meinen Arm zurück, »immer in Verlängerung die Rute denken!«, ich verharrte eine Sekunde, solange sich die Schnur hinter meinem Rücken in der Luft streckte, bis ich ein Zucken an der Stange spürte, »Spitze aufgeladen, jawohl, auf eins!«, und meinen Arm vorbewegte wie einen Uhrzeiger, »aus der Schulter werfen wir!«, und wieder zurück, »auf elf, warten, eins!«, und wieder, »Kellner sind wir!«, und, »elf, zwei-und-zwanzig«, wieder, »eins a!«
»Heute haben wir den Volki getroffen am Fluss«, erzählte mir Ernstl, während ich uns chauffierte, »hat uns vollgejammert, vom Sterben der Bachforellen, halten die steigenden Temperaturen, die Kraftwerke und die Klärung nicht aus, brauchen kaltes Wasser, schnelle Strömung, werden impotent wegen der Hormone, vermischen ihr Erbgut, kreuzen sich mit Regenbogenforellen, die vor Jahrzehnten aus den USA eingewandert sind, bald nur noch Hybriden und Bastarde im Wasser. Jetzt rechts rein! Keine reinrassigen Bachforellen mehr. Hat er eh recht. Der alte Haudegen. Aber wirklich. Der schmeißt seinen Vereinskollegen einmal jährlich kreuz und quer mit dem Säbel Narben ins Gesicht. Was für ein Minderwertigkeitskomplexler. Jetzt links rein! Seine Fliegen sehen aus wie der Struwwelpeter. Er macht den Hansschleudererpeppiwurf. Du bist jetzt schon besser. Aussteigen!« Am Schrottplatz angekommen verlangte Ernstl nach einem Radio. »Ein neues oder ein altes Modell?«, fragte die Händlerin. »Ein älteres eher.« – »Aha. Willst du auch einen Empfänger? Heute hat der Volki den letzten gekauft. Vielleicht verkauft er ihn dir.« – »Glauben wir zwar nicht, aber egal. Kann auch ein neueres sein. Hauptsache Kupfer ist drin«, zum Binden verwendete Ernstl wirklich alles. Ich setzte ihn samt erstandenem Radio bei der Herberge ab, fuhr weiter in die Musikschule.
Abends gingen wir zum Fluss. Auf einer Brücke hieß mich Ernstl zu warten. Ruhig war die Wasseroberfläche. Sie spiegelte die grünen Lindenblätter, auf denen wiederum tiefgelbe Reflexe des Sonnenuntergangs spielten. Es roch klar und rein. Plötzlich ein Platschen. Das Schlagen einer Schwanzflosse, ein Fisch, krumm im Flug sein Leib, tauchte wieder ein, »es geht los«, sagte Ernstl, »der Abendsprung!«, griff aus seiner Jackentasche Notizbuch und Stift, die er mir gab, und verschiedenste Fliegen, die er reihenweise auf das Geländer legte, »schreib auf, welche sie nehmen!« Er schnipste sie so schnell hintereinander, »schreib, schreib, verdammt, das währt nicht lang!«, dass ich fast mit dem Notieren nicht hinterherkam, ins Wasser, das voll aufsteigender Sauerstoffblasen brodelte, »die holen sich die unter Wasser schlüpfenden Insekten«, überall zerlegten Wassertropfen das Sonnenlicht in Regenbogengesprenkel. Die Forellen sprangen und tauchten ein, »keine Sorge! Die Haken haben wir abgezwickt«, so viele, so schnell, dass nur Klatschen zu hören war, ein Spektakel, zwanzig Minuten, »vorbei!«, das Schauspiel, tosender als alle Standing Ovations ob aller Abo-Ouvertüren à la Johann Sohn aller Österoperettensaisonen zusammen. »Lass uns essen gehen.«
Beim Wirten setzten wir uns an die Plätze, die am weitesten entfernt waren vom Stammtischeck. Die ersten unserer sogenannten Vereinskollegen rotteten sich dort schon zusammen. Ernstl bestellte eine Flasche Weißwein, Ham & Eggs und Toast Hawaii. Die Bedienung stutzte. Ich widmete mich dem Auswerten des Notizheftes. Als die groben Schweineschnitzel, die hässlichen Humpen aufgetragen wurden, obwohl wir zuerst bestellt hatten, grollte Ernstl, diese Scheißproleten seien nur zum Saufen hier, »wir haben die Zeit nicht.« Trotz des Rückstands schaffte Ernstl den ganzen Liter, während die Stammtischler ihr Bier leerten. »Barfüßiger«, riefen sie, »hält dir der die Stange oder den Speer?«, ich schreckte auf und Ernstl schrie: »Dies ist mein Fähndrich, dies ist meine rechte Hand!«, und als ich vom Tisch hochsah, erblickte ich Ernstls Faust. Er hielt sie dem freudlosen Gelächter entgegen, den hoch- und niedergehenden, eigentlich hängenden Bierbrüsten entgegen, den fetten Daumen entgegen, die Bierdeckel vom Krug hebelten, den auf und ab wogenden Kiefern entgegen, den pusteligen Nasen, den sich plusternden Backen, den belegten Zungen, den aufeinanderschlagenden Zahnreihen, zwischen denen schon die Schnitzelklumpen waren, den schallenden Gurgeln. Wie ein Sturzbach, wie ein Fassanstich Bier schütteten sie uns die Schallwellen entgegen, die auf Ernstl und mich preschten durch die Stube. Wie sonst nur das Poltern zweier gegeneinanderprostender Bierkrüge rollte die grollende Woge daher mit der Gewalt eines Dammbruchs. Tief kam das Brummen erst aus dem Zwerchfell heraus, dann die spitzen, kreischenden Hohnstimmen, wie schäumende, spritzende Gischtzungen, die sich nach uns streckten und in die kalten Eckzähne, Fänge, Lefzen, Masken und Schnauzen einer Schar Schäferhunde verwandelten, die aus der Welle heraushechelten, nach uns lechzend.
Ernstl ballte seine Finger gegen den Eichenholzstammtisch und die Buchentheke, auf der das lediglich aus uns einnebelnden, faulig süß riechenden Zwiebelstücken in Kartoffelsalat und einer Schüssel saftelnden Rotkrauts bestehende Salatbuffet vor sich hin vegetierte. Ernstl schmiss seine Faust noch entschiedener der Walnussanrichte entgegen, ihren nikotingelb angelaufenen Glasscheiben und dem flaschenweise dahinter ruhenden Wacholderbeerschnaps, abgerissen und verkommen, kaum mehr zu entziffern die Etikette, und am allerentschlossensten erhob Ernstl sich und seinen Arm und seine Faust, zitternd und zürnend, gegen die Widersacher, die überall an den Wänden hängenden Präparate. Ausgestopfte kapitale Forellen starrten uns an, gestrandet, vertrocknet aufgelesen, aus noch feuchten Flussuferwiesen, durchstochen von Widerhaken die Kiefer, genagelt auf Schwemmholzplatten mit Gravur, die Art, Datum, oder Stelle des Fangs verschwiegen, einstimmig die Inschriften: Volki. Wie die Schlachtstaccati eines pöbelnden Mobs umringten sie uns. Der beißende Spott streunte um die Tische, unsere Zehen keinen Schritt mehr von den messerscharfen, aber schartigen Reißzähnen. Nicht mal der steigende Pegel schien die Fische wiederzubeleben, nicht mal dieses Rudel blutrünstiger Kreaturen, halb Hunde, halb Hyänen, sie zu ängstigen. Ganz im Gegenteil schwebte Volkis Geist über der Flut und befehligte seine Rotte hohler Schädel, Skelette, gellende Marionetten und geschwätzige Handlanger, Schlafwandler und Opportunisten, befasst mit ihrem Aasfraß, in Bierhumpen gefangen und gedrillt, getauft und eingeschworen.
»Sakrament, verschluck dich nicht!«, flüsterte Ernstl, das Gelächter war versandet. Dann kam unser Essen. Er setzte sich wieder hin, schnitt mir