Die Forelle. Leander Fischer

Die Forelle - Leander Fischer


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Herberge ab und wartete wie so oft auf Ernstl, das Gesicht dem Weg durch den Garten, den auch er gehen würde, zugetan. Die Sonne setzte die jenseitigen Fichtennadeln ins Licht und warf ihren Schatten diesseits des Lattenzauns auf meine Brust. Dazwischen flimmerten gesiebte Sonnenstrahlen, jetzt in der gewöhnlichen und von keinerlei Rot mehr getrübten Farbe, auf meinem flanellenen Hemd. Die abstehenden Fussel leuchteten, zu welchen Fliegen man sie wohl veredeln könnte? Ich nahm den Stoff zwischen die Finger, er griff sich rau und gleichzeitig glatt. »Leg niemals Hand an dein schützend Gewand!«, Ernstls Stimme ließ mich hochschrecken, »Fliegen sind Wegwerfartikel, Hemden nicht.« – »Ich hab dich gar nicht kommen hören.« – »Was glaubst du«, und ging an mir vorbei, die Fliegenfischstange noch hoch erhoben, um den Korkgriff die zitternde Hand. Sie machte die Spitze wankend, als wollte er gerade auswerfen, »warum wir immer barfuß gehen.« – »Ja, warum eigentlich?« – »Wegen der langen Auswanderung nach dem Krieg. Als Südtiroler durften wir uns entscheiden. Entweder blieben wir ansässig. Innerhalb der neuen Grenzen würden wir Italiener. Oder wir gingen nach Österreich. Kontingentsflüchtlinge würden wir dann. Nirgends gehörten wir wirklich hin. Italien hatte gerade rechtzeitig kapituliert. Abgrundtief hassten sie die deutsche Sprache neuerdings. Die nette Nachbarschaft legte uns das Exil nahe. In Graz hatten wir wenigstens entfernte Verwandtschaft. Selbstverständlich spendierte uns der Staat kein Zugticket in die Steiermark. Fünfundvierzig wäre eh niemand freiwillig in einen Waggon gestiegen. Wir waren zu arm für ein Auto. Für Benzin erst recht, versteht sich. Also auch kein Moped. Wir gingen zu Fuß. Die Schuhe überlebten nicht. Es ging auch so. Die ganze Jugend sind wir barfuß gewesen. Und dann haben wir einfach nie angefangen, mit der Mode zu gehen. Außerdem, wer hungert schon und kauft sich Socken? Auf unserer Wanderung passierten wir Höfe. Keinen trockenen Kanten Brot hatten die Bauern für uns übrig. In Graz beäugten uns die Leute missgünstig. Wir lernten schnell, dass in dieser Zeit jeder zusätzliche Mensch ein Fressfeind war, sogar jedes unnütze Tier. Was meinst du, wie oft, barfuß in den rußigen Straßen. Auf den Mülldeponien der alliierten Kasernen. Streunende Katzen und wir. Immer wieder. Im Kampf um die Reste. Ein eh schon abgenagtes Fischskelett. Abschätzige Blicke, für das Tier, für uns, die machten keinen Unterschied, Passanten, genug Geld für Schuhe. Das Stigma wurde zu unserem Markenzeichen. Moralischer Reichtum, du verstehst?« – »Aber zu arm zum Fliegenfischen wart ihr nicht?« – »Seit jeher machen wir das nicht.« – »Sowas lernt man vom Vater oder gar nicht«, sagte ich. Auch mir hatte der Vater das Angeln beigebracht. Ernstl musterte mich, seine Augen blitzten im Frühlingslicht: »Hast du eh recht. Vom Himmelvater. Aber wirklich. Das Hungertuch wurde langsam, aber sicher zum Leichentuch. Hunderte Familien litten drunter. Davon hörte der Bischof. Und dann hörten wir ihn. Über das Radio erteilte er Absolution jedem Mann, der im Wald das Wild schoss. Oder wenn man die Kohlen von den Güterzügen nahm, die unnütz auf Rangierbahnhöfen standen. Schnalzt die Fische aus den Flüssen. Verziehen sei, in oberster, himmlischer Instanz. Doch was wuselte auf Irden herum, oberstes Fußvolk, neue Besatzer, keine Generalabsolution. Frage nicht, wie sie mit den Würmern unter ihren Soldatenstiefeln umsprangen. Vor ihren Augen, in Wilderer, Diebe und Schwarzfischer verwandelten wir uns. Der Fluss lag tief im Wald, weit abseits der Kasernen und Patrouillen, ungefährlicher. Unser Vater schickte uns also nach dem Fisch und ging selbst wegen der Kohlen. Ein Eschenast, biegsam, ein fadenscheiniger Zwirn, so fing das an, der Köder, aus Flicken zusammengetüftelt, ein Käfer voller Knoten und Knubbel. Die Fressfeinde, uneinsichtige Nazibauern von umliegenden Höfen, fett und fett, mit massenhaft Speck schmierten sie die Beamten, Mitläuferscheine für Höfe und Gesindel, Lizenz zum Töten, Fremdlinge wie wir, wen scherts, an schlechten Tagen, die guten, wenn wir hungerten, wenn Franzosen und Amis und Briten in den Auen keine Augen zudrückten. Aber die sicherten ja lieber Kohlen, im Sommer«, seine Hände zitterten noch stärker als sonst.

      Die in die unterste Öse der Stange gehakte Fliege wackelte, als wollte sie sich freischlagen, die Flügel mit Luft vollpumpen, spreizen und davonzischen. Das transparente Vorfach band sie aber, hielt sie zurück, straff gespannt, im Sonnenlicht glänzend, noch nass vom Fischen rannen daran die Wassertropfen hinab. Jetzt, in Bewegung versetzt, schleuderte das Vorfach Regenbogenperlen ab und spritzte sie zu allen Seiten wie die vom Tau feuchte Kette eines morgendlich geweckten Wachhundes. Die neongrüne Kunststoffschnur verschwand in der vergoldeten Spule und die Karbonstange wippte wie wild, dahinter die Wipfel der Fichten und Buchen, dahinter die verkarsteten Felswände der Kalkalpen, dahinter die schroffen Grate des Dachsteinmassivs, dahinter erhoben sich im Salzburger Land die zeitlos verfrosteten Tauern, der Großvenediger, von dem man an wolkenlosen Föhntagen am Horizont ein Meer roter Punkte sehen konnte, die aufgespannten Sonnenschirme an der Adriaküste Italiens, und dazwischen Südtirol, die vergletscherten Gipfel, die Gailtaler Alpen, zu ihren Füßen die Täler, durch die Ernstl einst gegangen war, »dann nahm das Wirtschaftswachstum seinen Lauf. Inzwischen können wir uns leisten, die Fische entwischen und wieder freizulassen. Gewissermaßen Reparationszahlungen an die Wildnis, unsere Art, es wiedergutzumachen. Deswegen gehen wir auch so früh los. Wenn wir die Forellen nicht fangen, fangen sie diese geschichtsvergessenen Nichtswisser von Bauerntrottel. Schau sie dir an und ihre Präparate. Volki, Volki, Volki steht drunter. Ein Datum gehört da hin. Aber sie, von der Vergangenheit hinein in die ewige Volkiwart. Aber wir, der letzte Gegenschlag. Fünfundvierzig haben wir die Sauproleten schon in den Fluss gedümpfelt. Untergetunkt, bis ihre Schädel Wasser gegluckert haben statt Bier. Natürlich sind unsere Stangen derweil abgetrieben. Das hat dann die Forellen vertrieben. Wir haben vielleicht dumm aus der Wäsche geschaut. Mit leeren Taschen sind wir nach Haus. Unser Gewand ging zunehmend für neue Köder drauf. Irgendwann blieb nur noch der Lendenschurz. Hat sich niemand mehr umgedreht nach uns. Wir waren das nackte Elend. Die Bauern haben das verbrochen, unsere Stangen mit lachendem Gesicht überm Knie zerbrochen. Das Ergebnis wollten sie nicht sehen. Sie haben es auch schnell vergessen mit Messwein, Wodka und Whiskey. Und wir wie die Kirchenmaus, aus der ein Elefantengedächtnis wächst. Merke dir, wie wir uns merken, was gewesen ist, merken es sich auch die Fische. Keiner fällt zweimal auf denselben Trick rein. Heute hilft ihnen ein Bauernschinken nichts mehr. Da geht keine Maus in die Falle. Da schaut kein Richter weg. Kein Fisch schwimmt deswegen weg von uns. Die Zungen sind feiner geworden. Proletenköder, dieses Elend kennen alle schon. Die Tricks müssen besser, immer ausgefallener werden. Extravaganz, nicht aus Dekadenz, sondern als einziges Rezept, um überhaupt noch zu fangen. Es ist quasi eine Bildungsmaßnahme, die Fische wieder zurückzusetzen. Für uns und für sie. Lernen durch Schmerz. Der Bierblick ist stumpf. Damit hauen sie alles tot. Deswegen müssen wir schauen, dass alle auf uns schauen, weil wir auf sie schauen. In diesem Fluss fangen nur noch wir. Und der Volki, leider. Aber der wird sich auch noch anschauen. Entwicklung in der Köderwicklung. Wir dürfen niemals ruhen. Wir fischen anders, Siegi«, Ernstl war unter dem Windfang der Herberge während dieses Monologs in einem steten sich beschleunigenden Metrum eine Stufe nach der anderen hinaufgestiegen, immer beide Füße nebeneinander setzend, und ich hatte gestaunt, dass die Holzsplitter an seinen Sohlen abknickten, ich keinen darin steckend erblickte, ich hätte sie gesehen, so nah waren wir uns, so hart war er. Er blieb stehen und öffnete die Tür und verkündete: »Bitte«, und schwenkte seinen Handrücken dem Eingang entgegen mit einer Vehemenz, die keinen Widerspruch dulden würde, und es war, als blickte ich jenseits der Holzplanken einer Brücke auf den Fluss im Frühlingsvormittag.

      Winternachmittags schmachtete ich in der Musikschule und der Sturm wetterte gegen die Fenster meiner Zelle, häufte Schnee auf den Fensterbänken. Er lag bis zur Querstrebe des Kreuzes schon, worüber in ständigem Vibrato die Scheibe zitterte, dass ich bereits wettete, ob die untere Hälfte vom stetig wachsenden Schneegewicht lawinenartig zu mir hereingepresst oder eher die obere Hälfte von den frostigen Böen zerfetzt und in Scherben zu mir klirrend hereingewichst würde zwischen meine und meines Schülers Schuhsohlen, die im Takt wippten. Ein Allegro assai tippten wir aus den Knöcheln, allerdings alla breve, nur auf die Halben, ansonsten wären uns die Füße abgefallen, nach wenigen Takten sicherlich, nur das Metronom tickte die Viertel, hingestellt auf die innere Fensterbank kontrollierte, es unser sachtes Fersenstampfen, das Hoch und Nieder meines Halbabsatzes, das Auf und Ab seiner Gummisohle, das Bibbern unserer frierenden Oberschenkel, mit dem wir das alla breve aufs Parkett brachten, während der Wind draußen in irgendwelchen Hohlkörpern tanzte und Flocken durch die Luft heulte. Auf der Scheibe spiegelte ich mich, die Kommode gegenüber auch, auf der noch haufenweise Noten lagen, aufgestapelt bis unter die Dachschräge, gelochte, schnellgeheftete Kopien, obenauf


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