Die Forelle. Leander Fischer
so sah, völlig weg von der Musik, hielt ich unser Zucken und Zappeln plötzlich für eine winterliche Zitterpartie. Scheißkalt war es hier drin, weil er sich weigerte, die Heizung weiter aufzudrehen, der Herr Kollege aus dem Untergeschoss, in dessen Klavierzimmer unangebrachterweise der Thermostat angebracht war. Unsachgemäß krass geheizte Zimmer verstimmten den Steinway sicherlich, sagte er immer, gewiss nicht die Kollegenschaft. Und wenn, was machte das schon, er war ja immer noch vom Direktor der Darling und Spion, der jedes Jahr die sogenannten Visionen, Erregungen und Kritzeleien der Eltern auf irgendwelchen Nachfragebogen auswertete, hin und wieder ein bisschen kritisch interpretierte oder Unerfreuliches hinzudichtete.
Da kam ich auch schon aus dem Takt über meinem ganzen Ärger auf dieses Unterlander Kaff, die Schicky-Micky-Mäuschen-Kleinstadt. Mein Oberschenkel zitterte, mein Knöchel erstarrte, mein Halbabsatz verharrte. Entlarvt wurde ich gleich doppelt und dreifach, vom Weitergeigen meines Schülers, vom exakt schlagenden Metronom, von einer mechanisch genau halb so schnell wippenden Turnschuhsohle. Durch den orangefarbenen Nylonsocken sah ich die Sehne arbeiten und den Knöchel vor mich hin rhythmisieren, alla breve wie vorher ausgemacht, allegro assai, wie ausgewiesen in der Partitur, die zwischen mir und meinem Schüler aufgeschlagen am Notenständer lag, der ebenfalls vibrierte, da der Junge zu fest stampfte, ein Auf und Ab der Ferse pro Doppelschlag vom Metronom, indes der Wind wie wild sein Spiel trieb. Schneechaos herrschte nun schon wochenlang, seit der Kleine eingetreten war, die Knöchel geklammert um die kopierten Seiten des Köchelverzeichnisses sechshundertsechsundzwanzig, »Mozarts Requiem«, sagte er, »Sisi«, sagte ich, »jaja, spielen wir im Kirchenorchester, zu Weihnacht«, und ich lachte. »Zweite Geige bin ich«, sagte er, ich lachte abermals, sagte, »erste wirst du sein«, und spielte ihm das Stück vor. Seither kann ich mich keiner Stunde Unterricht ohne Niederschlag entsinnen, ohne dass es schneite.
Die anderen Schüler nahmen sich Kältefrei, während der Kleine, mein Einziger derzeit, mit Ingrimm geigte vor den fallenden Flocken, die selbst aussahen wie das Negativ von Notenköpfen. Es verblieb bloß noch ein schmaler Schlitz Fenster, durch den ich hinaus ins Dezemberschwarz schielte, während darunter, gespiegelt vor den Schneewehen in mein Gesicht, der Aufstrich meines Schülers kam. Er spielte ihn genau wie ich, ein keckes Minimarcato mit Absetzen, starrte derweil wie eine Offenbarung die aufgeschlagene Partitur an. Einen Wimpernschlag verharrte seine Hand, schwebte frei, strich dann ab, nahm alle Töne legato auf einen Bogen, betete brav herunter. Das Metronom auf der Fensterbank verdeckte jetzt seine Knöchel, bis es die Hand mit wildem Schlagen in unerbittlichem Takt wieder nach oben trieb, in diesen mir so lieben Aufstrich. Wieder entfernte sich der mahagonifarbene Bogen von der Saite, ein My nur von Abfedern und Abheben vor dem Fall. Unter dem orangefarbenen Nylonsocken regte sich sein Knöchel, seine Ferse stampfte auf den Boden, schickte den Stoß durchs Parkett in die Füße des filigranen Silbernotenständers hinein, der erbebte und die Partitur bewegte, während die haselnussbraune Pupille eine Zeile nach unten rutschte, die Schulter sich regte, der Oberarm ebenfalls, der Ellenbogen und der Unterarm, daran die Hand, die Finger, Abstrich. Wieder erzeugte das kugelige Metronom das Bild auf der Scheibe, als wäre es des Jungen Hand, schickte dem Bogen den Puls ins Blut und hämmerte den Takt Schlag um Schlag übergelenk den Arm hinauf bis in den Kopf und zu den weit aufgerissenen, rotgeränderten, blau unterlaufenen Augen wieder hinaus, die in die aufgeschlagene Partitur stierten, die Notenköpfe anschauten wie jemand, der nach dem gesehenen Flügelaltar, bepinselt mit Tauben und Engelstrompeten und Jesus und Jungfrau, das geschehene Wunder vergisst. Zu Füßen des Fensterkreuzes glotzte das Metronom wie ein Totenkopf. Er spielte den letzten Aufstrich. Das Kolophonium hockte mitten auf den kopierten Seiten wie ein zwischen Schultern gesackter Schädel. Er strich ab. Der Schnee kleisterte die finalen Millimeter Scheibe. Mein Schüler stand, legte die Geige beiseite, auf die Kommode, nahm von den gestapelten Notenheften das kunststoffummantelte Stück Kolophonium. Mit der bernsteinenen Fläche strich er über das Bogenhaar, von oben herab. Trockenster Staub rieselte grau aufs Parkett. Der Schüler setzte unten ab und oben wieder an. Er ließ die Hand sinken und Partikel aufs Parkett stieben. Seine Finger strichen von der Spitze zum Frosch. Das Kolophonium kroch das Rosshaar runter wie ein Tropfen Harz, der bereits zu trocknen beginnt, eine Baumrinde hinab, bis er ein Insekt erfasst, von Kopf über Thorax bis Abdomen orange ummantelt, erstarrt samt Fühlern und Beinchen und hauchdünnen Hautflügelchen, eingeschlossen die Flügelscheide sowie die brillanten Augen der toten Köcherfliege. Köcheln hörte ich es. Nina hob den Deckel vom Topf. Wasserdampf stieg ihr zu Kopf. Rot wurden ihre Wangen. Ich roch ihren Puls. Die Note erhob sich von ihrem Handgelenk. Aus Parfumalkohol löste sich Duft wie aus Orchestern Klang. Er erfüllte die Herbergsküche. Lenas blonden Schopf umspielten Wolken. Über den Fliegenkopf strich ich einen Tropfen Lack. Das Schlurfen Ernstls, sein Knöchelknacken schlich an mein Ohr, ein Fingerschnipsen im Gehörgang. »Was hast du da getan?« – »Mit einer Violinsaite habe ich gerippt«, ich spannte die Köcherfliegenlarve aus, vernahm sie schon ins Wasser fliegen, spürte sie an meinen Fingern ziehen, gegen die brodelnde Strömung schwimmen, zur Oberfläche kommen, leben. Als die Forelle stieg, biss, fühlte ich meine Zunge zwischen den eigenen Zähnen beben. Du Holzklotz! Verflucht und zugenäht! Was ist denn das? Meiner Seel, das Requiem. Mittendrin im Komponieren hat es da geheißen Wolfgang Ade. Seine Adepten haben es fertig gemacht. Das kann man nicht nach Strich und Beistrich spielen. Du hast jeden Metronomschlag getroffen. Alles nach den Noten. Das ist doch Material. Interpretieren musst du. Und erst die Triolen. Wie sich bei dir drei Achtel aufs Viertel ausgehen. Kein Taschenrechner der Welt hätt genug Nachkommastellen. Bei dir Periodenscheißer geht ja sogar ein US-amerikanischer Supercomputer KO. Selbst der Herr Riemann oder wer auch immer gibt da w. o. So viele Dreien gibts gar nicht, wie dir ins Zeugnis gehören. Und erst die Triller. Immer dasselbe gespielt. Nach Punkt und Faden. Schon mal was gehört von Stuckstücken, von Schmuckierungen und Verzierratur? Wenn alle Zimmer in Wien den gleichen Plafond hätten, im Ohr jedes Strizzis das gleiche Flinserl wär und die Schlagobershaube am Eisbecher immer gleich aussähe, wo kommen wir denn da mit dir Korinthenreiter hin. Beispielsweise die Doppelschläge. Auf eine Viertel, da kommt der Grundton, dann der Ton drüber, dann der Grundton selbst, dann der Ton drunter und wieder der Grundton. Eine Girlande quasi, ein Kranz sozusagen, einen Reigen um den Grundton. Aus Grundton, drunter, Grundton, drüber machst du Erbsenhengst zweiunddreißigstel, und dann wieder den Grundton als Achtel, sodass sich alles ausgeht, voilà, wir haben eine Viertel. Vielleicht hast du einen Plan, und genau deswegen keine Ahnung, nicht den geringsten Schimmer. Du kannst den Doppelschlag verlangsamen, einbremsen und die gestohlene Geschwindigkeit zum Schluss erst, am Grundton wieder, abzwacken. Beschleunigen, geht auch, am Grundton kommst du dann früher wieder an, dann kannst du ihn länger halten, wirklich voll klingen lassen und diese Betonung auskosten, bevor du alsbald nach ausdrucksvollem Bogenstrich, der immer noch andauert, weiterspielst. Schon mal irgendwo im Köchelverzeichnis ein Wiederholungszeichen gefunden. Ebendrum. Ein bisschen Abweichung. Darauf kommt es an, jeden Doppelschlag anders. Wie, das überlegst du dir im Spiel. Nur eine Stütze ist die Partitur; interpunktieren musst du. Für Paragraphenkacker hab ich hier keine Zeit. Das werd ich dir schon beibringen. Hast du ein Glück, dass ich zart besaitet bin. Eine Engelsgeduld hab ich. Aber mit dir i-Tüpferl-Zähler komm ich zum Finis. Das Metronom pochte noch. Der Schüler stockte im Kolophonieren. Meine Hand war erhoben. Ich stand. Aber ich war ja schon abgemahnt seitens der Musikschuldirektion, also ließ ich meine Finger fallen auf die andere Handfläche, dass es schallte. Wie eine Watschen klang das, wenn man vor der Zimmertüre stand. Die Metronomschläge prügelten mich. »Well, pack ma zam, super war das.«
Die Türangeln ächzten zu Hause. Zuallererst suchte ich die Fibel. Dann roch ich gleich das Gas. Das Heft geriet an der blauen Flamme in Brand. Feuerzungen zuckten durch die Luft zum Dunstabzug. Lodernd flog es in die Spüle. Infernalisch flackernd verging das Köcherfliegenverzeichnis und mit ihm und in ihm die sechshundertsechsundzwanzig verkrusteten Muster. Ich lachte. In Schuhen und Mantel, Schnee auf den Schultern, in einer Lache stand ich, schlich ins Bad. Aus dem Abflusssieb fischte ich einen Haarkranz. Lena, Johannes, Lukas, ich wusste es nicht, penultimo. An der Garderobe harrte keine Faser meiner. Die finale Strähne beutelte ich aus dem Kopfpolster. Ich trat rückwärts bis zur Türschwelle, schwenkte den Blick, dachte die eine Betthälfte weg, überlegte, wohin den Bindetisch, an dem ich dann hockte, wie vor einem Schrein, Jahr um Jahr, bis alles Gold verwunden war im blonden Schein der Fliegenbindelampe, die ich umfunktionierte zum Schreibtischlicht.
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