Die Forelle. Leander Fischer
So ging es Tag für Tag. An allen Abenden war die Goldkopfnymphe am fängigsten.
Manchmal wies mich Ernstl an, die Hahnenfeder nicht gerade zwischen Kopf und Körper, sondern diagonal, den ganzen Körper entlang um den Haken zu wickeln, so entsteht eine Rippung. Der unter Zug gewundene Federkiel drückt das Katzenfell nieder, oder die Wolle, oder den Flachs, schneidet ein, und ausgleichsmäßig treten zwischen den Hechelfiebern die freien Flächen noch bauschiger hervor. In ein Korsett werde sie ihre Tochter jetzt nähen und zum Ballettunterricht schicken, teilte mir die Mutter der Pubertierenden in einem wutentbrannten Anruf alsbald mit. Ich hielt das für eine recht wirkungslose Drohung wie eine zu lange Schwanzfeder oder ein Lagenwechsel, den es nicht braucht, um den Ton zu greifen, nur dem Schauen des Publikums geschuldet, obwohl es doch hören sollte. Die Tochter jedenfalls spiele zwar wieder, aber was falle diesem System ein, was denke ich mir dabei, als einem Vertreter desselben, sie sagte wirklich desselben, vielversprechende Kinder mit zweitklassigen Instrumenten zu traktieren, und das im Mozart-Beethoven-Haydn-Schubert-Land. Ich sagte ihr, mit der Reihenfolge stimme etwas nicht, und legte auf, musste ich doch schon wieder zu Ernstl, um erstens eine goldene Kugel durch das Loch auf den Haken zu fädeln für das Köpfchen, zweitens den Hakenbogen in den torpedoförmigen und schraubstockmäßig funktionierenden Bindestock einzuspannen, drittens das goldene Köpfchen mit dem Faden zu fixieren, viertens mit dem Faden blauen Flachs niederzubinden, denselben ohne den Faden als langsam entstehenden Körper um den Resthaken zu wickeln, wieder abzuschnüren und überstehenden Flachs abzuschneiden, fünftens eine schwarze Hahnenfeder, die Fiebern in eine Hechelspirale zu Land und zu tanzenden Beinchen im Wasser, den Kiel zu einer Rippung im blauen Flachskörper zu verwandeln, sechstens aus Ninas Haar die Flügelscheide am Rücken der Fliege zu machen und siebtens Rehhaar, das ich zu streicheln liebte, bevor ich eine Brise losschnitt vom Lederfleck, zum Schwänzchen der Goldkopfnymphe zu adeln. Achtens zirkelte ich ihr den Schlussknoten zwischen Körper und Kopf, als legte ich ihr eine Schlinge um den Hals, und wenn es wahr ist, dass Würgen erregt, so vollendete ich diese Fliege mit einem Orgasmus. »Sieh nur, was du getan hast«, und mit dem schnippenden Schrei der Schere, die den Faden final unter Zug mit jenem Sirren abschnitt, zerstreute Ernstl meine Freude wie Staub in den Wind, »du hast Ninas Haar auf den Körper, über die Hahnenfiebern gebunden, sie damit wieder niedergedrückt. Die hättest du vorher auslichten müssen. Jetzt stehen sie wie Schlingen weg! Du hast ein Monster geschaffen, einen Struwwelpeter. Der ist für die Fisch!« Als hieße er Hans, guckte Ernstl zum Plafond. Nina schritt ein: »Das merkt doch kein Fisch.« – »Aber wir«, sagte Ernstl zu ihr, schaute sie an, riss seine Augen auf, blickte zu mir, sagte dann, »bind das nochmal!« – »Spiel das nochmal!«, sagte ich nachmittags lustlos zu dem Achtzehnjährigen, »aber diesmal spiel zu jedem einzelnen Melodieton den passenden Akkord, und zwar in der Lage, dass der Melodieton jeweils der höchste im Akkord bleibt!«, er übte auf sein Abschlusskonzert hin. Er würde es sogar vergeigen, obwohl er, bereits seit er fünf Jahre alt war, bei mir Gitarrenunterricht nahm. Im Werden waren mir die Kinder lieber. Doch jenes pubertierende Mädchen kam nicht wieder in mein Unterrichtszimmer. Auch ans Telefon ging niemand. »Ganz toll, wirklich ganz tolle Idee, Lena, eine weniger.« – »Super, dann kannst du ja noch öfter, und auch beim nächsten Mal einfach zu deinem Ernstl gehen.« – »Das werde ich auch, das war meine beste.« – »Super, er ist ja auch deiner«, sagte sie, schon im Halbschlaf, erst durch mein Eintreten ins Zimmer und mein Schlüpfen unter die Decke des Ehebetts geweckt. Sie war sicher nur traumhappig grantig. »Dann seid ihr alle vereint«, sagte Lena, »eine glückliche Familie, Opa, Papa, Tochter.« – »Lena, es passt eh.«
Im Morgengrauen fischte Ernstl ein, zwei, manchmal auch drei Stunden, taufrisch und unverwunden kämpfte er sich fassadenklettersicher die jenseits des Dorfes gelegenen, verforsteten Böschungen hinab ans Wasser, hie und da an Lianen, Zweige und Büsche fassend, legte er sogleich Finger an seiner Stange Korkgriff und barfüßig Dutzende Meter stromaufwärts zurück, durchs grundgeschotterte Flussbett, mit hochgenadelten, sicherheitsgekrempelten Hosenbeinen, ins hodenkrebskalte Erregungsgewässer hinein, Bisse in den Schenkeln und den Ellen, vorbei an Strömungsschatten stiller Sandbänke, rauschende Kaskadenterrassen entlang und den Katarakt hinauf, rein in die Klamm, zwischen sich verjüngende Geröllwände, kaum ein Quant Lichteinfall, mehrere Mann hoch aufschießend der Stein beiderseits, eingekeilt warf er die Fliegen, fing Fische und bewältigte diese Strecke unverstiegen auf Kies, dirigierte sodann die Köder durch die daliegende Äschenpassage von einsamen Brücken aus, auf deren Geländer er das Licht schon altern sah wie den Himmel, vom althergebrachten Ultramarin zum neugeborenen Babyblau, von Blutopferrot zu heiter bis wolkigem Ausschussentsorgungsorange, so nahm er die letzte Forellenetappe durch den langsam erwachenden, Zierblumenblüten aufschlüsselnden und von Bienensummen umbrummten Kurpark, der sogar den sprudelschreienden Fluss hörbar entspannte, schließlich sichtlich krümmte, sodass Ernstls Gewässer dann doch vorbeiführte, wieder wegnickend und wegknickend, an der Wirtenkreuzung, wo Ernstl gerne innehielt, in den Hocksitz ging, wenn denn da jemand lag.
Der sich herablassende Schatten traf statt des Straßengrabens manches Mal Ernstls Feinde, beispielsweise den Bäckermeister, dem Ernstl sogleich mit der einen Hand die Fransen aus der Stirn schob, um andrer Hand die Haarspitzen schnapp, schnipp etwas nachzubessern, oder Ferdl die drei viertel gerauchte Zigarette aus der klammerreflektierenden Hand zu nehmen und ihm die vergangene Glut ins Gesicht zu reiben, ein schwarzes Kreuz auf die Nasenwurzel zu setzen. Waren weder Haare noch Asche parat, was ab und an vorkam, entfernte Ernstl Ferdl eben den Hemdknopf in der Brusttasche und ließ eine Fliege hineinfallen, freilich mit reichlich angesägter Öse, die Ferdl, sobald er nicht mehr döse, sogleich ans Vorfach binde und beim vorsichtigsten Forellenknabbern verliere. Ernstl selbst führte der Fluss dann am Gasthof vorbei, an der Schonstrecke, am Bahnhof und an des Dorfes letzten zersiedelten Ausläuferhäusern, deren rückseitige Gärten Ernstl kurzerhand betrat, nur durch eine schmale Rehgipswand von den schlafenden Eigentümern getrennt, auch wenn er die Wählscheiben einiger Frühaufsteher schon zum Rasseln brachte und sich Klagen von Hausfriedensverfechtern einfing, während er noch eifrig ein paar letzte Nymphen eintreiben ließ an Stellen, die von andernorts gar nicht anzufischen waren, indes die Anzeigen von Anrufbeantwortern entgegengenommen wurden in der Wachstube, die eher einer Ernüchterungszelle glich, mit Forellen behängt die Aluminiumwände, Geweihe, Prositneutagsfotografien und Verdienstorden, dazwischen der Schreibtisch, dahinter sitzend, Kaffee atmend, Kapuziner draus machend, allmorgendlich angeschottert der Dorfsheriff, dem anspringende Anrufbeantwortung kaum mehr abrang als ein Stirnrunzeln, wann das denn aufhörte, ein Aufstehen dann doch, ein Drehen am Regler, sodass die aufgebrachten Stimmen zwar noch vernehmbar, aber nicht mehr verstehbar waren, leise genug, erträglich für Fredl klangen, zumal Ernstl, das wusste man, schon alle Forellen abgehakt hatte im Wasser, noch nicht mal ins Wasser, dafür war er bekannt, dass er seine willigen Gespielen und besten Freunde an knietiefen, ufernahen Stellen befreite, ohne zu landen, und schon selbst zusah, dass er Land gewann, sich aus dem geenterten Garten schlich, sich vertschüsste die restlichen paar Hundertschritte den Fluss hinauf, sich zu putzen über die Schwelle, um sich zu verziehen ins Zimmer wie hinter Gardinen und unter die Decke jener außerhalb des Dorfes gelegenen Herberge Zum lachenden Haberer, der ich auch schon zustrebte, schleunigst nach dem morgendlichen Lokruf, während Lukas und Johannes von der Elektromotive genau in die andere Richtung gen Horizont gezogen wurden, am Schienenstrang gen Unterland, den Strom entlang ins Oberland, dass ich Ernstl im Flussbett auf Asphaltpiste überholte, nicht ohne das Fenster herunterzulassen und dem Murmeln zu lauschen, das hörbar wurde, schaltete ich bloß hoch, drosselte ich doch die Drehzahl, strengte ich mich nur genug an, das Wasser als Vibrato trullernde und Salti schlagende Operettenaltmutterstimme über der pochenden, kontrapunktierenden Basspassage des Viertaktmotors.
Aus dem Wagen gestiegen schritt ich den Weg durch den Garten ab. Bärlapp und Bärlauch wuchsen bereits wie wild, satt und gesund machend in Wiesengrün, und ein orange gescheckter Kater huschte schnellstmöglich unter der ersten Latte des Zauns hindurch und war weg, verschwunden zwischen den Buchenstämmen außerhalb des Gartens, die jüngeren Brüder der Fassade, auf die ich zumarschierte. Jedes Astloch sah ich an diesem Morgen in dem hellen Holz und hörte fast die säuselnde Säge, die dem Wachstum ein Ende setzte, die fallenden Späne, die heiß werdenden Raspeln, die beinahe schmelzenden Feilen, den Feinschliff und das gemütliche Pfeifen des Meisters, das tumbe Kautabakausspucken des Holzknechts, und ich roch fast den Rauchausstoß, spürte die Lungenflügel