Die Forelle. Leander Fischer

Die Forelle - Leander Fischer


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Zeiten nachlesen können, eine Ur-Szene quasi machen wir. So kriegen wir sie dran, Treffpunkt Herberge, um fünf Uhr.« – »Warum erst so spät?« – »Morgens. Dann können wir binden und im Dämmerlicht gleich los. Wenn die werten Kollegen Richtung Ufer wanken, hatten wir schon alle dran. Die werden schauen, und schwärmend frische Fische sehen, und keinen aus dem Rauschen heben.« In unmissverständlichem Grün zeigten die Digitalziffern meines Radios elf Uhr an. »Aber heute noch, zum Wirten, auf ein Abendmahl?« – »Nichts da. Wochenends sitzen uns normalerweise schon zu viele Bärbeißige rum. Was meinst du, was da los ist. Der einzige Tag im Jahr ist das für sie. Der fängt schon heute und dauert bis morgen an. Da fängt sogar der versoffenste Trottel was. Das muss im Vorhinein begossen werden. Und wenn wir da hinkommen, die wir immer fangen, frage nicht. Da sind sie empfindlich. Die ziehen nicht den Olivenzweig. Die sind nicht zimperlich. Die zucken richtig aus. Rapier schnell zur Hand. Damit zipfeln sie uns dann vorm Gesicht herum. Auf ihr Niveau müssen wir uns erst runtersaufen. Wir werden sie schon kitzeln. Ganz gentlemenlike aber. Denen zeigen wirs. Mit Stil!«, inzwischen schrie er, die Flasche war leer, wild hieb er damit herum vor seinem Gesicht, fuchtelte quer der Konsole, immer weiter die Kreissegmente, über die ganze Breite der Windschutzscheibe. Beim vierten Streich musste ich mich schon wegducken, und beim fünften Hieb begriff ich erst, dass er mich dirigierte und abzubiegen hieß, beim sechsten Schwung kurbelte er dann übergriffig mit der freien linken Hand das Fenster herunter bis zur Hälfte, weiter kam er nicht, denn ich stieg aufs Pedal und wir sausten aus der Kurve heraus schleifender Kupplung und schleudernder Reifen und Haare peitschenden Seitenwinds, dass es eine Freude war mit dem Mercedesheckantrieb, dass die Stresssträhnen ergrauten, dass Ernstls freie Hand sank, und beim siebten Schlag ließ er die Flasche los, dass sie voller Fliehkraft gegen die Scheibenkante krachte, aber nicht sprang, sozusagen abprallte mit grellhellem Klang, über die Plexiglasfläche gelangte in aerodynamische Position, vom eigenen Schwung ins Freie katapultiert und zusätzlich fahrtwindtechnisch untergriffig weggerissen wurde. Weil ich über eine Brücke abbog, behielt ich durch das Seitenfenster die Flasche im Blick, sah den hohen Bogen, das Blitzen des Lichts am Glas. Mit Effet schraubte und purzelbaumte sie sich der Sonne entgegen, beide Achsen entlang rotierend, und so erreichte die Weinflasche den Scheitelpunkt, stand erhoben, und sturzflog ins Flusswasser, mit dem wir ebenfalls fuhren. Durch die Windschutzscheibe sah ich sie wie eine Flaschenpost erst oben schwimmen. Im Beifahrerfenster schon reckte sich gerade so der Hals aus dem Wasser, ums Verrecken noch nicht untergegangen. Dann verschwand die Doppelliterflasche völlig hinter Ernstls Körper, hinter der Fenstersäule und im hinteren Beifahrerfenster unter Wasser, soff sich voll, wurde eine sinnlose, unerhört zurückgebliebene, nie aufgeschnappte Botschaft. Neben Ernstls fuhrwerkenden Armen im Seitenspiegel erblickte ich die leere Doppelliterflasche grün unter Wasser schimmern und einem Kassandraschrei in der Wüste gleich verklingen, zur akustischen Fata Morgana verklärt, da war doch gar nichts, wie viele Kraftwerke haben wir am Strom? Vom Rauschen überlagert zerbarst das Ding, setzte noch nicht mal eine Blase an die Oberfläche frei, gespült und geschmettert gegen einen strömungsbrechenden Stein. Ich meinte noch, Splitter blitzten, aber das vermochten auch aufsprudelnde Wassertropfen, die Licht zwar in Spektren zerlegten, aber wegen des Flusstons satt ins Grüne strichen.

      Ernstl hatte weder nach draußen gesehen noch seine Armschwünge beendet, ganz so, als hielte er sein Falsett noch höchst konzentriert in Händen und hätte etwas auszufechten. Die Bewegung versandete so wenig wie das Heben und Senken längst imaginär gewordener Bierkrüge, die, selbst schon verschwunden, Hände zogen, abwechselnd zum Mund und zur Tischplatte schwebten, nicht mehr geführt wurden, sondern Männer wie Frauen verführten, unermüdlich geübte Muster geboten, Praxen des Trinkens, stumme Schluckrefleximitationen, Aufziehpuppen, routiniert, stundenlang, metronomisiert, Marionettenkönig Methanol, Wochentag für Jubiläumsjahr, beharrlich, aber beherrschungsverloren, dem Ruf ergeben, sabbernd und doch trockengelegt, sodass Speicheltropfen Krüge füllten, auf und ab gehend als Spucknäpfe jetzt vor Insassenbrüsten, die sich in Wirklichkeit die Hosen vollgeiferten, dass die Pfleger eine Arbeit hatten, enerviert hin und her huschten, eher wieder Wärter wurden, »hast dich wieder vollgeferkelt, du Sau«, einmal bloß den Vater dort besucht, während er den Kelch empfing am Mund, ihn wieder runterstellte und hob, die leere Faust des Vaters ging nieder, die Klientel derweil gruppiert um gigantische Tafeln, alle dasselbe machend, in kolossalvollen Sälen titanischer Kerkerhaftanstalten, überall und allenthalben hingepflanzt die letzten Trinkluftschlösser dieses Winzlingslands, abgestellt in pomplosen à la das-kriegen-die-eh-nicht-mehr-mit, aber abartig großen Alkoholkrankenparkhäusern ohne Ausfahrt.

      Ich parkte in gebührendem Abstand vom Bahnhofsgebäude. Wie eine Kathedrale oder eine Universität erschien mir die Flügeltür des ramponierten Zementhaufens. Wie Novizen und Studenten würden meine Söhne darin eingehen, wie auch ich mein Curriculum wiederaufnehmen würde. Ich stellte den Viertaktmotor und die Zündung aus, und es wurde ruhig. Frühsommersonnenaufgangslicht fiel durch die Windschutzscheibe auf meine Söhne, deren Köpfe ich im Rückspiegel sah. Niemals nahmen sie die äußeren Plätze auf der Rückbank ein. Stets saß einer der beiden in der Mitte. Dabei wechselten sie sich ab. Diesmal saß Lukas rechts, und als ich ihn die Seitentüre öffnen hörte, stieg ich in Eintracht aus, stand sogleich links vom Wagen. Ich konnte die beiden nicht sehen, weil ihre Köpfe noch nicht erwachsen genug waren, das Autodach zu überragen. Auf dem Blech spiegelte sich die langsam in meine Augen steigende Sonne und ich blinzelte, während ich dachte, Lukas und Johannes, sie würden wachsen, bald schon, größer. Als ich mein Gesicht abwandte, um die Motorhaube entlangzublicken, die genau auf das Bahnhofsgebäude zeigte, sah ich nur noch die Rücken meiner schnurstracks losmarschierenden beiden Söhne, die eine Schultasche in Camouflage gehalten, die andere in neonfarbigen Karos. Ich wollte schon rufen, als Lukas seinen Arm hob, den Ellenbogen durchstreckte sowie die Finger an der bloßen Hand, die an diesen Frühsommermorgen nicht mehr in Handschuh gepackt werden musste. Er fasste seinen Bruder Johannes an der Schulter, am Träger des Rucksacks, den mein Sohn weit unter seinem Hintern trug. Die beiden Schultaschen schwenkten aus meinem Gesichtsfeld. Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte vor, schon fast auf Abfahrtszeit. Aus der Bahnhofsstube strömte warmer Kaffeegeruch und aus den Tälern kam mit starkem Föhn Waldaroma. Es war göttlich, wie sich meine beiden Söhne auf dem Parkplatz vom Bahnhofsgebäude abwandten, irritiert zu ihrem Vater umdrehten, die Gesichter voll Überraschung und vom einfallenden Sonnenschein zerrissen in Rot und Schatten. »Was machst du noch hier?«, fragte Lukas und Johannes sagte: »Papa, du bist ja ausgestiegen.« Ich schritt ihnen nach, kniete mich hin vor die beiden Knirpse, dass ich auf Augenhöhe war, sagte, »ganz recht, mein Sohn«, legte meine vier Finger an Johannes’ Wange, sah ihm in die Augen, in denen sich meine spiegelten, in denen sich seine spiegelten, stellte nicht den kleinsten Unterschied fest und zeichnete ihm mit dem Daumen ein kleines Kreuz auf Stirn, Nase und Mund, dann küsste ich ihn auf die Wange. »Ihr seid so groß geworden«, beim Berühren seiner Haut spürte ich seine Mundwinkel nach oben wandern und bemerkte, wie warm die Wange war und dass Johannes keineswegs aus Rebellion gegen das elterliche Zieh-dich-warm-an die Haube zu Hause vergessen hatte. Lukas trug sie wahrscheinlich aus modischen Gründen. Ich würde sie ihm etwas aus dem Gesicht schieben müssen, um auch seine Stirn zu bekreuzigen, Vatersagen hatte mein Vater immer gesagt, auch mir fiel nichts Besseres ein, doch als ich meine Hand nach Lukas ausstreckte, machte er einen Satz zurück und sagte: »Was fürn Scheiß!«, drehte sich weg und ging eilenden Schritts in den Bahnhof ein, der wenige Sekunden später auch Johannes verschluckte. Im Mitgehen versuchte er noch mehrmals, Lukas an der Schulter herumzudrehen, ihn zu zwingen, mich anzusehen, wie ich da stand, einen Kuss auf meine Handfläche hauchte, um dann zu winken, vielleicht zeitgemäßer als der Vatersegen. Ich tat das drei, vier Mal, während die beiden eingesogen wurden vom Bahnhof und davongetragen von den dahinterliegenden Gleisen und mir auffiel, dass Johannes den Camouflage-Rucksack trug und Lukas den neonkarierten, Johannes Lukas herumgedreht hatte und nicht umgekehrt. Wie ein Tropfen Blei in einem sonst reinen Bergquell lag eine Spur stechenden Schmierölgeruchs in der Luft. Dann hupte mich ein Audifahrer an. Seine beinahe zu spät kommenden Blagen säßen längst im Zug, wären sie sofort ausgestiegen und gerannt, statt darauf zu warten, dass ich zur Seite trat, um anschließend bis zu den Treppen des Bahnhofsgebäudes vorgefahren zu werden. Als die beiden Kinder vom Beifahrersitz und der Rückbank die Türen öffneten, hoffte ich, sie würden gegen die Marmorstufen knallen, die natürlich aus Granit bestanden. Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte auf die Abfahrtszeit vor, die Knirpse


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