Psychophysiologische Störungen. Allan Abbass
alle Störungen, für deren Entstehung mehr oder weniger schwerwiegende Bindungstraumatisierungen und unverarbeitete Emotionen relevant sind. Die Zusammenfassung all dieser o. g. Störungen unter dem Dach der »psychophysiologischen Störung« erscheint auch insofern naheliegend, da zwischen den »funktionellen Störungen« und den im engeren Sinne »psychischen Störungen« eine sehr hohe »Komorbidität« besteht. Außerdem betont der Begriff der »psychophysiologischen Störungen« weit stärker als das Konzept der somatischen Belastungsstörung die direkten physiologischen Auswirkungen unverarbeiteter bzw. konflikthafter Gefühle auf den Körper. Die obengenannten Krankheitsbilder sind nicht nur die Folge dysfunktionaler Kognitionen (Abbass et al., 2018), sondern gehen auf direkte physiologische Effekte des überaktivierten Angst-Abwehrsystems zurück.
John E. Sarno
Der Praxisleitfaden wurde John Ernest Sarno (1923–2017), einem im angloamerikanischen Sprachraum bekannten Psychosomatiker, gewidmet. Sarno war Professor of Rehabilitations Medicine an der New York University School of Medicine. Er hat mehrere Bücher zur Mind-Body-Medicine veröffentlicht, zuletzt im Jahr 2006 »The Divided Mind: The Epidemic of Mindbody Disorders«. Einen Eindruck von seinem Schaffen vermittelt auch der Dokumentarfilm »All the Rage« aus dem Jahr 2016, der sich mit der Schmerzepidemie in den USA und der daraus folgenden Opiatsucht befasst. Er vertritt als Rehabilitationsmediziner einen durchweg psychodynamisch-psychosomatischen Ansatz und sieht insbesondere unbewusste Wut, auch getriggert durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, als ursächlich für die Schmerzepidemie in den USA an. Sarno vertritt wie die Autoren die These, dass erlernte zentralnervöse Prozesse als Reaktion auf unverarbeitete komplexe angstmachende Emotionen für die psychosomatischen Beschwerden verantwortlich sind. Das Gehirn generiert quasi die unterschiedlichen Beschwerden, um die Person vor den darunterliegenden Gefühlen zu »schützen«. Die Symptome dienen dabei der Ablenkung von den eigentlichen Ursachen: »Physical symptoms, of either the hysterical conversion or psychosomatic variety, are intended to divert attention from emotions in the unconsciousness so that they will not become overt and thereby known to the conscious mind« (Sarno, 2007, S. 50).
Emotionsfokussierte Psychotherapie
Grundlage der in der zweiten Buchhälfte vorgestellten emotionsfokussierten Psychotherapie ist die Intensive Dynamische Kurzpsychotherapie, ISTDP (Intensive Short-Term Dynamic Psychotherapy), die von Prof. Dr. med. H. Davanloo begründet wurde. Er war ursprünglich Neurochirurg, wechselte in die Psychiatrie, erlebte seine eigene Analyse bei Helene Deutsch und nutzte die Psychoanalyse als therapeutische und wissenschaftliche Grundlage für sein Wirken als Lehrstuhlinhaber an der McGill Universität in Montréal. Von 1960 an zeichnete er seine Therapien audiovisuell auf. Anhand der Videos studierte er akribisch, welche Interventionen erfolgreicher waren als andere. Auf der Basis seiner Videoanalysen entwickelte er die ISTDP, welche eine einfache und verständliche Neurosenlehre mit differenzierten psychotherapeutischen Interventionstechniken verbindet. Die Anwendung dieser hochwirksamen Therapie erfordert ein hohes Maß an Supervision und Selbstüberprüfung, sodass auch für die Evaluation des Therapieprozesses die Dokumentation der Behandlungsstunden mittels Ton- und Bildaufzeichnung erforderlich ist. Bei der Datenspeicherung sind höchste Anforderungen an die Datensicherheit zu stellen.
Die meisten Patienten kommen in Therapie, weil sie leiden. Sei dies psychisch oder rein körperlich. Bei vielen Körperbeschwerden wird kein körperlicher Auslöser für das Leid gefunden. Die Ursache der Symptome liegt oft in unbewussten Gefühlen, die mithilfe von Abwehren verdrängt werden. In der Kindheit hat das geholfen, sich besser an die Umgebung anzupassen, Spannungen weniger bedrohlich werden zu lassen, Situationen zu deeskalieren und existenzielle Konflikte mit den primären Bezugspersonen zu vermeiden. Auf Dauer können diese Anpassungsmechanismen zu Symptombildung und einem Andauern des Leidens führen.
Das neugeborene Kind sucht die liebende Verbindung zu seinen Bezugspersonen, den Eltern. Wird die Liebe durch Vernachlässigung, körperliche oder seelische Verletzungen gestört, reagiert das Kind, das im frühen Alter nur emotional und nicht kognitiv gesteuert kommunizieren kann, mit Trauer und Wut. Die Wut wiederum löst Schuldgefühle aus, denn es ist wütend auf einen Menschen, den es liebt und braucht, der durch sein Verhalten seine Liebe verletzt hat. Das Kind in der frühen Entwicklungsstufe kann wütende Impulse in seiner Erinnerung nicht von aggressiven Taten unterscheiden, sodass bereits aggressive Handlungsphantasien als reale Tat wahrgenommen werden und zu massiven Schuldgefühlen führen können. Dies geschieht insbesondere dann, wenn die Bezugsperson das Kind durch seine eigene Präsenz und Zuwendung nicht von seiner lebendigen Unversehrtheit überzeugt, sondern sich entzieht.
Das Kind macht die unbewusste Erfahrung, dass es mithilfe von Abwehrstrategien seine gemischten Gefühle vermeiden kann und dadurch nicht mehr von diesen bedrängt wird. Dieser seelische Vorgang hilft ihm auch, sich an die Situation zu adaptieren und die lebensnotwendige Bindung aufrechtzuerhalten. Da der Mensch auf liebende Verbindungen angewiesen ist, sucht er auch als Erwachsener danach. Dadurch setzt er sich der Gefahr aus, alte Erfahrungen zu wiederholen und erneut verletzt zu werden. Durch das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Nähe werden nicht nur die gemischten Gefühle aus der zurückliegenden Lebensgeschichte mobilisiert, sondern auch die Angst davor und damit die in der Kindheit gelernten Abwehrstrategien. Werden die Abwehrstrategien aktiviert, führen sie oft zu einer Einschränkung der Lebensentfaltung, zu seelischen Leiden und körperlichen Symptomen.
Zu Beginn der Therapie steht die Exploration der Symptome. Dabei versucht der Therapeut zu erfahren, seit wann die Symptome bestehen, wie oft und wie stark sie den Patienten beeinträchtigen und unter welchen Umständen sie auftreten. Während der Exploration erlebt der Therapeut, welche Gefühle der Patient meidet, welche Abwehrstrategien er dazu einsetzt und wie hoch seine Angst ist, wenn es darum geht, mit seinen Gefühlen wieder in Kontakt zu kommen. Wir laden den Patienten ein, sich für sein körperliches Erleben seiner Emotionen, seiner Ängste und Abwehrstrategien zu interessieren. Gelingt es dem Patienten, die Angst vor seinen Gefühlen zu überwinden, seine Abwehrstrategien zu erkennen und abzubauen, kann er seine eigenen Gefühle erleben. Das führt dazu, dass seine Angst im Alltag und mit ihr die Symptome zurückgehen oder sich vollständig zurückbilden. Er lernt, seine Gefühle adäquat zu erleben, ohne sie ausleben zu müssen oder in Form der selbstdestruktiven Abwehrmuster gegen sich selbst zu richten.
Eine wichtige Orientierungshilfe in der ISTDP ist das Konfliktdreieck nach Ezriel (1952) und Malan (1979), das von H. Davanloo und A. Abbass übernommen wurde. Dabei stellt sich stets die Frage: Was zeigt der Patient im Kontakt mit dem Therapeuten? Sind es Gefühle, eine Angst oder eine Abwehrstrategie?
Abb. 1: Das Konfliktdreieck
Zu den Gefühlen zählen wir: Wut, Schmerz, Trauer, Liebe, existentielle Angst.
Angst betrachtet die ISTDP als Aktivierungsmuster des Körpers. Davon werden einerseits Ängstlichkeit und Befürchtungen abgegrenzt, die als Gedanken und Kognitionen eingeordnet werden. Andererseits die existentielle Angst, welche im Zusammenhang mit einer lebensbedrohlichen Situation auftritt. Das Erleben von Angst hat ein körperliches Korrelat. Wenn wir Angst spüren, sind das somatische und das autonome Nervensystem aktiviert. Eine wichtige Entdeckung von Davanloo sind die drei unbewussten Ausbreitungswege der Angst.
Abb. 2: Ausbreitungswege und Symptome unbewusster Angst (modifiziert nach Pfaundler und Quade 2014)
Die Angst kann sich in der quergestreiften Muskulatur niederschlagen (willkürliches Nervensystem), eine Modulierung der Aktivität der glatten Muskulatur (autonomes Nervensystem) bewirken oder sich als eine kognitiv-perzeptive Störung (zentrales Nervensystem) zeigen. Es ist für die Behandlung von fundamentaler Bedeutung, den Ausbreitungsweg der Angst zu erkennen, denn die Auswahl der Interventionen in der ISTDP hängt unmittelbar davon ab. Ist der Therapeut damit vertraut, seine Interventionen auf die körperliche Manifestation der Angst abzustimmen, kann die ISTDP mit ausreichender Sicherheit angewendet werden.
Patienten, bei