Psychophysiologische Störungen. Allan Abbass
wie dissoziative Zustände (Depersonalisation, Derealisation, Stupor), Tunnelblick, Verschwommensehen, Augenflimmern, Verlangsamung im Denken, Störungen der Auffassungsfähigkeit bis zum Black-Out, auch psychomotorische Schwäche mit herabgesetztem Muskeltonus. Erste Hinweise auf eine Angstüberflutung sind eine geistige Verlangsamung und verlangsamte Reaktionsgeschwindigkeit. Dieser reduzierte Aktivitätszustand wird von Abbass sehr plastisch als »going flat« bezeichnet. Damit dieser Zustand überwunden werden kann, nutzt der Therapeut u. a. eine Intervention, die wir als »kognitive Einordnung« übersetzt haben, im Original wird an dieser Stelle »recapitulation« oder kurz «recap« benutzt. Die Behandlungsform, in der »recaps« häufig eingesetzt werden, wird im englischen Text als »graded format« beschrieben, in der deutschsprachigen Literatur wird dies uneinheitlich als »graduiertes, sukzessives oder schrittweises Vorgehen« bezeichnet. Aus unserer Sicht ist gradiert am besten geeignet, um zu beschreiben, dass mit geringgradig mobilisierenden Interventionen begonnen wird und in den nächsten Schritten auf die zunehmende Fähigkeit des Patienten aufgebaut wird, angstmachende Affekte zu tolerieren. Diese zunehmende Affekttoleranz ermöglicht zunehmend stärkere Interventionen zur Affektmobilisierung, bis die strukturelle Kapazität ausreicht, um sich mit primären Affekten in Bezug auf das Beziehungstrauma auseinanderzusetzen.
Anmerkungen zur Übersetzung
Bei dem vorliegenden Manual handelt es sich um die Übersetzung des Buches »Hidden from view« von Allan Abbass und Howard Schubiner. Die deutsch-schweizerische Übersetzergruppe entschied sich während einer Weiterbildung bei Allan Abbass im August 2018 in Bern zu diesem Projekt, im Anschluss an die Folgeveranstaltung 2019 wurde das Manuskript beim Verlag eingereicht. Wir hoffen, dass sich trotz unterschiedlicher Sprachstile ein ausreichender Lesefluss ergibt. Die jeweiligen Abschnitte wurden gegenseitig mehrfach überprüft und überarbeitet.
Anders als in der englischen Sprache ist es im Deutschen möglich, männliche und weibliche Personenbezeichnungen zu unterscheiden, beispielsweise Therapeut von Therapeutin. Wir haben nach Prüfung verschiedener Optionen die männliche Form gewählt, da wir Begriffe wie Therapeut und Behandler trotz des generischen Maskulinums als geschlechtsneutral verstehen. Nach unserer Auffassung schließen diese Begriffe alle Geschlechter gleichrangig ein.
Wir hoffen, dass auch Sie, liebe Leser*innen viele Anregungen und Instrumente in diesem Buch finden und es Ihnen damit leichter gelingt, Patienten mit chronifizierten Leiden und daraus resultierenden Eigenheiten in der Beziehungsgestaltung zuversichtlich und partnerschaftlich zu begegnen. Wir würden uns wünschen, dass Sie, ebenso wie auch wir Übersetzer, eine Faszination für diese wirkungsvollen Methoden entwickeln können.
Danksagung der Autoren
Allan Abbass ist voller Dankbarkeit für die Unterstützung seiner Kollegen vom »Centre for Emotions and Health, Family Medicine, Emergency Medicine and Internal Medicine« an der Dalhousie University: Richard Zehr, Angela Cooper, Joel Town und Ryan Wilson. Howard Schubinder bedankt sich als Mitarbeiter in Forschung, Klinik und Lehre sowie als Freund für die Unterstützung von Mark Lumley von der Wayne State University und Alan Gordon vom Pain Psychology Center in Los Angeles.
Wir möchten auch unseren Familien danken: Howards Frau Val Overholt für ihren weisen Rat und ihre Unterstützung und Allans Frau Jennifer und den Kindern Lauren, Will und Anthony für ihre ständige Unterstützung.
Wir möchten uns bei den vielen Kollegen bedanken, die die Entwürfe dieses Buches geprüft und Feedback gegeben haben. Dazu gehören Dr. Bianca Horner, Joanna Zed, Angela Cooper, Lothar Matter, Sam Campbell, Arno Goudsmit und Kollegen der University of Maastrict Family Medicine, Steven Allder, Patrick Luyten und Nat Kuhn.
Wir sind sehr dankbar für einen talentierten Designer, Eric Keller, einen exzellenten Lektor, Michael Betzold, und einen engagierten Korrektor, George Nolte.
Wir beide sind unseren Patienten sehr verbunden, die uns das Privileg geben, sie kennenzulernen und mit ihnen täglich zu lernen, wie Seele und Körper zusammenwirken.
Während wir dieses Buch schrieben, verloren wir John E. Sarno, der unsere Arbeit sehr beeinflusst hat. Dr. Sarno war ein Pionier auf dem Gebiet der Psychosomatischen Medizin und hat in den letzten 40 Jahren wertvolle Beiträge geleistet. Er wird sehr vermisst. Seine Geschichte wurde kürzlich in dem Film »All the Rage« von Michael Galinsky dokumentiert. Dr. Sarno hat eine ganze Generation von Forschern und Klinikern beeinflusst, um Patienten mit psychophysiologischen Störungen zu helfen. Wir sind stolz darauf, zu ihnen zu gehören.
1 Psychophysiologische Störungen – eine Übersicht
Elisabeth, eine 32 Jahre alte Frau, klagt, sie bekomme immer wieder schlecht Luft, sie habe Anfälle von Atemnot und multilokuläre Schmerzen. Zwei frühere Untersuchungen erbrachten keinen pathologischen Befund. Als ich sie über ihre Symptome befrage, rinnt eine Träne über ihre Wange.
Peter, ein 45-jähriger Mann, klagt seit sechs Monaten über anhaltende Rückenschmerzen. Die Beschwerden begannen vor einigen Jahren mit intermittierenden Schmerzen. Der Schmerz strahlt nicht in die Beine aus. Gelegentlich komme es aber zu Kribbelparästhesien im vorderen Bereich der Oberschenkel. Die neurologische Untersuchung ist normal. Im MRT finden sich Anzeichen einer degenerativen Wirbelsäulenerkrankung im Bereich der LWS, eine Bandscheibenprotrusion im Bereich L4/L5 mit einer mäßiggradigen Einengung des linken Neuroforamen. Die zweimalige Verordnung von Physiotherapie hatte zu einer bedeutsamen Verbesserung geführt.
Diese beiden Patienten klagen über häufige Beschwerden, die psychophysiologisch, durch Organpathologien oder durch eine Kombination beider Ursachen hervorgerufen werden können. Beide Vignetten sollen im Folgenden veranschaulichen, wie eine effiziente Diagnosestellung und Behandlung bei dieser Art von Befundkonstellationen gestaltet werden kann.
1.1 Übersicht
Psychische und emotionale Faktoren spielen bei Arztbesuchen eine herausragende Rolle (Kroenke, 2003; Kroenke und Rosmalen, 2006; Stuart und Noyes, 1999). Gemäß einer Metaanalyse weisen in der Primärversorgung zwischen 40–49 % der Patienten mindestens ein psychophysiologisches Symptom auf und bei 26–34 % kann eine somatische Belastungsstörung diagnostiziert werden (Haller et al., 2015). Tatsächlich können psychosoziale Faktoren vielen Krankheitssymptomen zugrunde liegen, wie bspw. Nacken- und Rückenschmerzen, Bauch- und Beckenschmerzen, Fibromyalgie, Angstzuständen, Depressionen, Müdigkeit, Schlaflosigkeit und autonome Funktionsstörungen wie dem Reizdarm oder der nervösen Blase (Schubiner und Betzold, 2016). Psychosoziale Faktoren spielen außerdem eine bedeutsame Rolle für Behandlungsfehler, Probleme mit der Adhärenz, protrahierte Genesungsverläufe nach Verletzungen und die übermäßige Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Leider werden diese Faktoren noch zu häufig nicht identifiziert und nicht effektiv behandelt (Kroenke, 2003; Kroenke und Rosmalen, 2006).
Darüber hinaus wirken sich emotionale Faktoren auch ganz entscheidend auf Gesundheit, Wohlbefinden, Lebensqualität und Arbeitszufriedenheit der Ärzte und deren Mitarbeiter aus. Patienten mit behandlungsresistenten Syndromen und schwerwiegenden emotionalen Problemen beeinträchtigen die Zufriedenheit der Behandler und erhöhen das Risiko für Burnout und Kunstfehler (Croskerry et al., 2010).
1.2 Multifaktorielles Ursachenspektrum
Jeder Patient mit psychophysiologischen Störungen (PPS) weist eine einzigartige Krankengeschichte auf, die durch das Zusammenspiel von Symptomen, belastenden Lebensereignissen, der aktuellen Lebenssituation und den Umgang mit den Symptomen gekennzeichnet ist. Demgemäß können für die Ätiologie der PPS leichter zugängliche verhaltensbezogene, kognitive und zwischenmenschliche Faktoren eine Rolle spielen oder aber auch tief verwurzelte dysfunktionale Reaktionsmuster (
Tab. 1.1: Ursachen und Behandlungen