Psychophysiologische Störungen. Allan Abbass
Verhaltensweisen. Typische Beschwerden sind Nackenschmerzen und Spannungskopfschmerz. Angst wird vor allem in die quergestreifte Skelettmuskulatur kanalisiert und führt zu muskulärer Verspannung. Außer durch interpersonelle Lernerfahrungen können diese Symptome aber auch durch das Gesundheitssystem verstärkt werden.
In der Regel sind diese Patienten aber in der Lage, Emotionen wahrzunehmen, die auf vorangegangene Bindungstraumata zurückgehen. Sie können in der Regel gesunde Bindungsbeziehungen aufbauen. Sie sind offen für den Zusammenhang von Stress und Symptomentstehung, können ihre wichtigen seelischen Probleme erkennen und sprechen deshalb auf edukative und kognitiv-behaviorale Interventionen an. Die Behandlung besteht in der Psychoedukation über die Bedeutung von Stress und in Methoden der kognitiven Umstrukturierung. Außerdem sollen die Patienten in die Lage versetzt werden, Stressoren weniger maladaptiv zu bewältigen. Ausführlich werden diese Interventionen in den Kapiteln 2–4 erklärt.
1.4 Unbewusste Konflikte
Bei schweren Formen psychophysiologischer Störungen werden die Symptome primär durch unbewusste emotionale Faktoren verursacht. Diese Patienten sind oft alexithym, d. h. sie haben Schwierigkeiten, Emotionen wahrzunehmen, innerlich zu erleben und angemessen auszudrücken. Meist sind sie durch die Beschwerden sehr stark blastet, fast immer besteht eine ängstlich-depressive Symptomatik und in der Biografie finden sich gehäuft traumatische Lebenserfahrungen. Es fällt ihnen oft schwer, die Rolle emotionaler Faktoren für die Symptomentstehung zu verstehen. Die Beschwerden dieser Patienten sprechen häufig nicht auf unspezifische medizinische Behandlungen oder psychotherapeutische Bemühungen an. Diese Patienten benötigen eine psychotherapeutische Behandlung, die ihre Fähigkeit verbessert, Gefühle wahrzunehmen und den Zusammenhang zwischen emotionalen Faktoren und der Symptomentstehung zu verstehen. Dieser Behandlungsansatz wird in den Kapiteln 5–8 beschrieben.
1.5 Ein Kontinuum
Zwischen diesen beiden Polen, dem der leichten und schweren psychophysiologischen Störungen, finden sich viele Patienten, die eine Kombination dieser unterschiedlichen Therapieansätze benötigen. Die in den Kapiteln 2–4 beschriebenen, leichter zu erlernenden Techniken eignen sich für die meisten Patienten der Primärversorgung. Auch Patienten mit tief verwurzelten emotionalen Konflikten können von diesen edukativen und kognitiv-behavioralen Techniken profitieren, ebenso wie weniger schwer Betroffene von den emotionsfokussierten Interventionen, die in den Kapiteln 5–8 beschriebenen werden. Für alle Patienten mit psychophysiologischen Störungen ist eine evidenzbasierte und rationale medizinische Herangehensweise sinnvoll, die relevante somatische Ursachen ausschließt und Patienten über die zugrunde liegenden psychophysiologischen Mechanismen aufklärt.
1.6 Settingfaktoren und Interventionen
Patienten mit psychophysiologischen Störungen werden von Klinikern in unterschiedlichen Settings mit unterschiedlichen zeitlichen Rahmenbedingungen gesehen. In manchen Einrichtungen steht nur sehr wenig Zeit für die Untersuchung und Behandlung der Patienten zur Verfügung. Für diese Ärzte ist es hilfreich, unterschiedliche Ursachen funktioneller Störungen zu kennen, ein überschaubares Repertoire kurzer edukativer und kognitiv-behavioraler Interventionen zu beherrschen und zu erkennen, wann sie Patienten in eine fachspezifische Behandlung überweisen müssen.
Ärzte mit mehr therapeutischem Spielraum profitieren in ihrer klinischen Arbeit sehr davon, wenn sie lernen, wie man die spezifischen Ursachen psychophysiologischer Störungen identifiziert, wie man psychoedukative und kognitiv-behaviorale Behandlungen einsetzen kann und dem Patienten hilft, unbewusste Emotionen zu erkennen und zu verarbeiten.
1.7 Die zentrale Rolle einer vertrauensvollen Beziehung
Vertrauen in der Arzt-Patient-Beziehung ist die Basis einer erfolgreichen klinischen Arbeit. Patienten mit psychophysiologischen Störungen haben oft stigmatisierende und diskriminierende Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem gemacht: Ihre Beschwerden wurden als »eingebildet« entwertet und sie als »klagsam« oder gar als »Simulant« abgestempelt. Gleichzeitig fühlen sich die Betroffenen wie überwältigt von ihren belastenden Lebensumständen und dem Ausmaß ihrer Beschwerden. Die frühen Lebenserfahrungen der Betroffenen sind oft von Bindungstraumatisierungen, d. h. belastenden Kindheitserfahrungen, gekennzeichnet. Wenn man versteht, dass die Schmerzen der Betroffenen real sind und die Ursachen für diese Symptome auf frühe belastende Lebenserfahrungen in Gestalt von Vernachlässigung, Verlassenheit und Missbrauch zurückgehen, ist es einfacher, eine fürsorgliche Haltung einzunehmen und dem Aufbau von Vertrauen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Machen Sie sich klar, dass die Qualität der therapeutischen Beziehung die notwendige Grundlage für den Erfolg der nachfolgend beschriebenen Interventionen ist. Wir hoffen, dass dieses Buch Ihnen hilft, Ihre Patienten besser zu verstehen und eine gute therapeutische Beziehung aufzubauen.
1.8 Zusammenfassung
• Die Ursachen psychophysiologischer Störungen reichen von erlernten kognitiv-behavioralen Schemata bis hin zu tiefverwurzelten maladaptiven emotionalen Reaktionsmustern.
• Emotionale Faktoren spielen bei sehr vielen Patienten eine Rolle. Diese emotionalen Faktoren müssen im Fokus der Behandlung stehen.
• Die meisten Kliniker können von der Theorie und den Interventionstechniken in diesem Buch profitieren.
• Eine fürsorgliche und vertrauensvolle Beziehung ist entscheidend für die Behandlung von Patienten mit psychophysiologischen Störungen.
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