Psychophysiologische Störungen. Allan Abbass

Psychophysiologische Störungen - Allan Abbass


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Menschen wissen z. B., dass sie wütend sind. Ihre Körper sendet aber Angstsignale aus. Ihre Symptome zeigen sich v. a. in der Skelettmuskulatur, was zu Beschwerden im Bewegungsapparat führt. Die Patienten sind in der therapeutischen Situation in der Lage, einen hohen Anstieg an Gefühlen zu tolerieren. Der Therapeut hat also grünes Licht für die weitere Fokussierung auf das emotionale Erleben, da die Gefahr einer psychischen Dekompensation nicht gegeben ist.

      Patienten, deren Angst sich in das autonome Nervensystem entlädt, leiden an Symptomen der inneren Organe wie Migräne, Magen-Darm-Störungen, Störungen des Urogenitaltraktes und andere. Die hauptsächliche Abwehrstrategie ist die Repression, die Verdrängung oder Unterdrückung der Gefühle, was mit einer Beeinträchtigung der Selbstwahrnehmung einhergeht. Diese Menschen spüren und merken nicht, dass sie wütend sind. Sie zeigen auch keine Zeichen der Angst in der quergestreiften Muskulatur, sondern sie aktivieren unmittelbar bei einer Änderung der Gemütsbewegung psychische Symptome und körperliche Reaktionen. In dieser Konstellation ist es unabdingbar, bei der Fokussierung auf das emotionale Erleben und der Gefahr einer Angstüberflutung immer wieder durch kognitive Einordnungen eine Entlastung des Patienten herbeizuführen und damit zunehmend eine Desensibilisierung gegenüber seinen gefürchteten Affekten zu erreichen. Der Therapeut muss die weitere Fokussierung sehr zurückhaltend anwenden und gegebenenfalls angstsenkende Methoden einsetzen, da eine Überforderung durch zu intensive Fokussierung zu einer Verschlimmerung der Körpersymptomatik führen kann.

      Patienten, deren Angst sich ins zentrale Nervensystem entlädt, zeigen Wahrnehmungsstörungen wie verschwommenes Sehen, Tunnelblick, auditive oder haptische Phänomene und kognitive Beeinträchtigungen in Form von Konzentrationsstörungen, Gedankenabreißen, Blackout oder dissoziativen Symptomen. Auch diese Menschen merken nicht, dass sie wütend sind. Sie sind bereits bei geringer Affektmobilisation von Angst überflutet und können nicht mehr funktionieren. Es liegt auch hier eine Beeinträchtigung der Selbstwahrnehmung vor, Impulse können häufig nicht ausreichend wahrgenommen und in der Folge nicht kontrolliert werden. Die Kommunikation nach innen gelingt kaum. Hier liegt oft eine erhebliche Beeinträchtigung der strukturellen Integration im Sinne der OPD-2 (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik, 3. Auflage, Huber) vor. Die hauptsächlichen Abwehrstrategien sind unreife, d. h. entwicklungsgeschichtlich frühe Abwehrstrategien: Projektion, Externalisierung, Spaltung. Bei diesen Patienten kommen wir rasch in eine rote Zone mit Gefährdung der inneren Kohäsion. Das heißt, wir müssen den Prozess stoppen, die Abläufe gemeinsam mit dem Patienten kognitiv analysieren, damit dieser einen Überblick und eine Orientierung über seine inneren Abläufe gewinnen kann. Diese Menschen geraten durch die Fokussierung auf die Gefühle sehr rasch in eine Angstüberflutung und können dann nicht mehr auf perzeptive, kognitive und exekutive Funktionen zugreifen.

      Während die Patienten mit aktivierter quergestreifter Muskulatur eine hohe Toleranz haben, Angst auszuhalten, benötigen Patienten mit Angstentladung in das autonome Nervensystem oder mit kognitiv-perzeptiver Störung zunächst die Fähigkeit, sich vor einer Angstüberflutung schützen zu können. Ihre Ich-Struktur ist zu zerbrechlich und bedarf zunächst eines Aufbaus und einer Stärkung der Abwehrstruktur. Dieses Merkmal wird als Fragilität bezeichnet.

      In der psychotherapeutischen Arbeit begegnen uns eine Vielzahl von Abwehrstrategien. Gewisse sind offensichtlicher, andere verborgen.

      Die etwas leichter zu erkennenden Abwehrstrukturen sind:

      • Obsessive Abwehren: Intellektualisieren, Ruminieren, Rationalisieren, Verneinen. Affekt und Kognition sind voneinander isoliert.

      • Regressive Abwehren: Weinerlichkeit, Klagen, Opferhaltung, Unterwerfung, vorwurfsvolle Haltung, oberflächliche Schuldproblematik, Passivität, Panikattacken, Depression, Somatisierung.

      • Taktische Abwehren: sich nicht festlegen (vielleicht, möglich, eventuell, vermeidend)

      • Maligne Abwehren: Trotz, Provokation, Sarkasmus, vordergründige Unterwerfung, passiv-provokatives Verhalten.

      • Unreife/Frühe Abwehren: Projektion, Spaltung

      Hinter diesen rasch in der Beziehung deutlich werdenden Abwehren sind zentrale Abwehren verborgen:

      • Der Widerstand gegen das Erleben von Gefühlen.

      • Der Widerstand gegen Intimität und emotionale Nähe

      • Der Über-Ich Widerstand: Sich entwerten, hohe Maßstäbe

      • Der Widerstand gegen den eigenen Willen, selber zu entscheiden, die Verantwortung zu übernehmen: Keinen Entscheid fällen, es anderen zu überlassen.

      • Der Widerstand gegen das Selbst: Sich selber aufgeben, sich in die zweite Reihe stellen.

      In der Behandlung der psychophysiologischen Störungen trifft man all die oben erwähnten Angstmuster und Abwehrstrategien in unterschiedlicher Ausprägung an. Das rasche Erkennen der Abwehr und der Ausbreitung der Angst erlauben einen raschen und effektiven Zugang zum Unbewussten, den verdrängten Gefühlen des Patienten. Werden diese erlebt, führt das zu einer vertieften Lebenseinsicht, einem Verständnis der eigenen Geschichte und oft zu einer raschen Linderung des psychischen Leidens und der körperlichen Symptome.

      So einfach die theoretischen Grundlagen sind, so herausfordernd und faszinierend ist die Arbeit nach ISTDP. Kein Patient ist gleich, keine Reaktion ist gleich. Das Tempo ist rasch, da das Gehirn immer und rasch reagiert. Es ist stets faszinierend, die verbale und körperliche Sprache des Patienten zu beobachten und zu verstehen. Die ISTDP orientiert sich an dem, was sich zeigt. Sie ist nicht ein passives Zuhören, sondern eine aktive Interaktion zwischen Patient und Therapeut. Es wird viel Wert auf die körperlichen Kommunikationssignale und die inneren körperlichen Zeichen gelegt, da sie uns eine Orientierung geben, wo das Innere, das Unbewusste des Patienten, sich gerade befindet. Ausbildung und Supervision stützen sich daher auf die Analyse von Bild- und Tonaufzeichnungen der therapeutischen Sitzungen. Ist man vertraut mit dem körperlichen Ausbreitungsweg der Angst und den sich zeigenden Abwehrstrukturen, hat man eine gute Orientierung über das psychische Geschehen und kann dies dem Patienten, der den Prozess selbst erfährt, vermitteln. So beginnt der Patient das Konfliktdreieck zu verstehen. Das gibt ihm Orientierung, Sicherheit und Selbstvertrauen.

      Terminologie in der deutschsprachigen Übersetzung und im englischen Original

      Die Fachbegriffe werden in der deutschsprachigen Literatur nicht einheitlich benutzt. Wir möchten an dieser Stelle auf die Begriffe aus der Primärquelle hinweisen, da wir den Textfluss im Manual nicht durch englische Begriffe unterbrechen wollen. Ferner erleichtert die Kenntnis dieser Originalbegriffe die Teilnahme an in englischer Sprache gehaltenen Weiterbildungskursen. Die Patientengruppen mit psychoneurotischen Störungsbildern werden im englischen Original als »Low resistant, moderate resistant und highly resistant« bezeichnet, wir haben uns für die Formulierung »Patienten mit niedrig-, mittel- und hochgradigem Widerstand« entschieden. Unter Widerstand verstehen wir das Produkt aus den »defenses«, den »Abwehren«, mit denen das Unbewusste des Patienten ein bewusstes Erleben der Emotionen verhindert. Unter »Emotionen« verstehen wir überwiegend Trauer, liebevolle Gemütsbewegungen, Wut, Freude, Schuldgefühle und Angst. Da uns Angst vor Gefahren warnt, kann sie auch auftreten, wenn eine subjektive innere Gefahr droht. Angstbesetzte und deshalb verdrängte Emotionen können eine solche innere Gefahr darstellen (image Abb. 1: Das Konfliktdreieck). Eine Beziehung zu anderen reaktiviert zurückliegende Emotionen, die in vergangene Begegnungen entstanden sind. Eine Möglichkeit, sich dieser Reaktivierung zu entziehen, ist das »detachment«, das sich Abkoppeln vom gegenüber, der Patient ist »emotionally detached«, meidet die emotionale Begegnung mit dem gegenüber, es entsteht eine Distanziertheit. Werden Emotionen unterdrückt, indem sie in körperliche Symptome verdrängt werden, wird dies von Abbass als «Repression« bezeichnet, in der deutschsprachigen Ausgabe haben wir dies jeweils nach Möglichkeit umschrieben. Um näher am Originalbegriff zu sein, haben wir dies nicht mit »Konversion« übersetzt, obwohl hier eine große inhaltliche Nähe besteht. Angstüberflutung führt zu einer kognitiv-perzeptiven


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