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und umsichtig Auto zu fahren, beim Rückwärtsfahren mit dem neuen Auto an eine kleine Mauer gestoßen.
Für ihre Schwierigkeiten schämt sich die junge Frau so, dass sie sich bei Bestätigung ihrer Verdachtsdiagnose nicht traut, dies ihrem Ehemann mitzuteilen. Und da ADHS vererbbar ist, will sie keine Kinder bekommen!
Früher hat man es nicht besser gewusst – aber muss es heute noch einen solchen Verlauf geben, wie im folgenden Beispiel?
Der jetzt 15½-jährige Jugendliche will selbst dringlich Hilfe, nachdem er erstmals im Alter von zehn Jahren vorgestellt wurde, als es zwischen ihm und seiner Mutter zu vielen akuten Zuspitzungen gekommen war. Bei klassischster und ausgeprägtester Symptomatik von ADHS wurde er sogar für einige Wochen in eine Pflegefamilie gegeben. Er konnte nicht stillsitzen und still sein, hatte eine katastrophale Heftführung, war sehr vergesslich und desorganisiert, hatte immer eine Ausrede und bekam Wutausbrüche.
Wegen widersprüchlichen Auffassungen im »Helfernetz« kam es jedoch trotz der sehr dramatischen Entwicklung zwischen ihm und seiner alleinerziehenden Mutter nicht zu einer zielführenden Behandlung, auch nicht zum empfohlenen Internatsbesuch oder zumindest zu einem medikamentösen Behandlungsversuch.
Im langwierigen Hin und Her der Einschätzungs- und Beratungsansätze hatte die Mutter (die selbst von ADHS in erwachsener Residualform betroffen ist) bei den heftigen Konflikten innerlich bereits einen Beziehungsabbruch zu ihrem Sohn vorgenommen.
Der Junge kam dann doch in ein Internat, aus dem er mit elf Jahren wegen massiven Alkoholgenusses nach einem halben Jahr verwiesen wurde. Über das Jugendamt wurde er in einem Heim untergebracht, da es zu Hause nicht mehr funktionierte. Aber auch dort war es sehr schwierig für ihn, die nur wenigen, freiwillig einzuhaltenden Regeln zu akzeptieren. Er versuchte, seinen Alltag selbst zu gestalten, was während der heftigen pubertären Entwicklung zu vermehrter Opposition führte. Nachdem er unter anderem sein Zimmer verwüstet hatte, wurde er über sechs Wochen vollstationär in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie mit stark beruhigenden Medikamenten behandelt.
Die Mutter hatte sich ihrerseits während des Heimaufenthalts ihres Sohnes kontraproduktiv verhalten. So wollte sie beispielsweise Vorschriften machen, wie man mit ihm umzugehen hat.
Der Junge wurde während der Heimbetreuung in einer Sonderschule für Erziehungshilfe unterrichtet, was bei seiner bekannten überdurchschnittlichen Intelligenz eine Unterforderung darstellte und die Situation zusätzlich erschwerte.
Der Vater des Jungen, selbst in der Beziehung mit einer alleinerziehenden Mutter lebend, die einen Jungen mit ADHS im gleichen Alter hat, bot an, den Jungen zu sich zu nehmen. Nachdem der Junge über die Hintergründe seiner Schwierigkeiten aufgeklärt wurde, war er bereit, eine ambulante Verhaltenstherapie zu machen.
Nach Jahren schwierigster Entwicklung und Leidens ist es für den Jungen heute nicht mehr verständlich, warum er jetzt erst die benötigte Hilfe einschließlich der Medikation erhält, die ihm ermöglicht, sich zu konzentrieren und zu steuern.
Inzwischen bereitet er sich auf den Werkrealschulabschluss vor.
Erfreulicherweise geht es aber auch anders:
Die Mutter weiß gut, was ADHS ist, hat sich ebenso wie ihr Mann damit auseinandergesetzt. Die kleine Tochter ist – schon früh erkennbar – deutlich betroffen, dabei ungewöhnlich aufgeweckt, sensibel, impulsiv, kreativ. Das morgendliche Anziehritual ist durch Trödeln und Probleme beim Kämmen kompliziert – und Mama ist eben auch nur ein Mensch. Sie schimpft laut – was ihr gleich wieder Leid tut mit dem Kommentar: »Ich bin wieder mal furchtbar gerade, sorry, aber ich habe dich trotzdem so lieb!«
Die 5-Jährige antwortet darauf ernst: »Mama, du bist nicht furchtbar, aber du zeigst mir gerade nicht, dass du mich lieb hast!«
Ungewöhnliches, Widersprüchliches wird oft schon im sehr jungen Alter erkannt und direkt benannt, treffend mit »Spontanassoziationen«, die u. U. erheiternd sein können. 2012 bekannte Eckart von Hirschhausen, dass er ADHS in milder Form nicht nur habe, sondern sogar davon lebe. Ohne seine sprunghafte Aufmerksamkeit wäre er wie viele seiner Kollegen nie Komiker geworden. In den Selbsthilfegruppen wird bei positiven Entwicklungen Betroffener seit Jahren gefragt, warum ADHS als Störung oder »Krankheit« definiert werde, wenn es doch viele berühmte Künstler, Erfinder, Köche, Sportler, Autoren und erfolgreiche Manager mit ADHS gebe. Die Antwort ist: Hat jemand in seiner »Begabungsnische« selbstbestimmt (!) eine subjektiv herausfordernde und interessante Tätigkeit gefunden, gerät er in den positiven Hyperfokus. Durch den intensiven Antrieb im Hyperfokus wird dann mit Überausdauer, oft enormer Sorgfalt z. B. umfassend recherchiert oder es werden detailverliebt, perfektionistisch anmutend, dabei oft querdenkend teils überraschende Hypothesen und Lösungen kreiert. Bei meinen Patienten und den Teilnehmern der Weiterbildung »Elterntraining für Elterntrainer« sowie den Kursteilnehmern der Kurse »Kommunikations- und Selbstwerttraining für Betroffene mit ADHS« möchte ich mich ganz besonders bedanken für ihr Vertrauen, ihre kritischen Fragen, ihre Anregungen und die Ermutigung, mit dem Werben für Akzeptanz von ADHS weiterzumachen, dranzubleiben an der Weiterentwicklung sich bewährender Hilfen im Sinne einer »Fortbildung in eigener Sache«. Ich wünsche mir, dass Betroffene damit möglichst frühzeitig realistische Chancen bekommen, kompetent mit sich und der Umgebung umgehen zu lernen, mit besserem Selbstwertgefühl ihre Nischen finden können, in denen sie dann selbstwirksam – wie es schon vielen gelang – wichtige Mitglieder der Gesellschaft werden können, statt als »Kranke« leiden zu müssen.
Esslingen am Neckar, Mai 2020
Cordula Neuhaus
1 Einleitung
ADHS – ein Spiegelbild heutiger Lebensbedingungen für Kinder?
Nach wie vor wird immer wieder von Kritikern und Skeptikern (mit und ohne spezifischen ideologischen Hintergrund) behauptet, dass unzulässigerweise der Einfachheit halber unterschiedliche Verhaltensstörungen unter der Diagnose ADHS zusammengefasst würden. Dabei seien die Auffälligkeiten wohl eher gesellschaftlich bedingt und ein Ausdruck von offensichtlich beeinträchtigten »Normalitätsvorstellungen«. Die Gesellschaft müsse sich eben ändern und schwierigen Kindern mehr Zeit und Zuwendung widmen. Das neurobiologische Erklärungsmodell des typischen »abweichenden« Verhaltens bei ADHS wird abgelehnt und die medikamentöse Behandlung als moralisch verwerflich verurteilt. Eine Journalistin fasst dies so zusammen:
»Eine minimale zerebrale Dysfunktion schränkt die Steuerungsfähigkeit des Gehirns ein, und fertig ist das Störungsbild – mit oder ohne Begleiterkrankungen, mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden, die sich auf das Lernen, Verhalten und die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen auswirken, die den Generalverdacht entkräften sollen, dass es sich bei ADHS um eine Modediagnose, Wunschkrankheit oder auch einen listig aufgefädelten Schachzug der Pharmaindustrie, Ärzteschaft und Psychologenzunft handelt, über die Erfindung neuer Krankheiten Kundenbindung zu betreiben« (Psychologie Heute 12/05).
2005 und 2008 berichtete »Spiegel-TV« sehr seriös in ausführlichen Sendungen über Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADHS. Die ARD strahlte den Film »Keine Zeit für Träume« 2014 und 2016 wiederholt aus. Ab und zu gab es auch von anderen Sendern mal gute kurze Beiträge – dennoch ist der Tenor der Presseberichterstattung bis heute, ADHS sei eine »erfundene« Krankheit.
Angesichts der Tatsache, dass bereits im Oktober 2002 am Bundesministerium für Gesundheit in einer interdisziplinären Konsensus-Konferenz zur Verbesserung der Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zwölf Eckpunkte formuliert wurden und im August 2005 die Kurzfassung der Stellungnahme der Bundesärztekammer (der Vorstand) zu ADHS veröffentlicht wurde (nachfolgend im November 2005 ein Fragen-Antworten-Katalog ebenda), wirkt eine solche Aussage doch verwunderlich.
Die Schilderungen der Symptomatik im Kindes- und Jugendalter sind seit »Urzeiten« dieselben:
Bereits 250 v. Chr. klagt eine Mutter in einer Ode von Herondas über einen Jungen, der ihr den letzten Nerv raubt, nicht richtig lesen kann, die Tafel mehr verkratzt, als schön darauf zu schreiben, keine Hausaufgaben macht, mühsam Gelerntes