ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Cordula Neuhaus
Erklärung der Verhaltens- und Leistungsprobleme würde »gewagt simplifizierend« direkt auf Funktionsstörungen des Gehirns zurückgeführt.
Wird mit aktuellsten Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften auch bezüglich anderer Störungsbilder argumentiert, heißt es speziell von psychodynamisch oder systemisch denkenden Fachleuten, »man habe eben eine andere Sichtweise«. Es wird auch gefragt, warum man diese nicht »stehen lassen könne«. Hilfsweise wird dann auf einen »Schulenkrieg« der Psychotherapieansätze verwiesen.
Für Eltern von Kindern mit auch nur geringsten Schwierigkeiten wird es generell zunehmend problematisch, sich zu orientieren, da mittlerweile frühe Bildung und Schule an sich neu erfunden wird in systemisch-konstruktivistischer Richtung. Das bedeutet, dass man keinen Entwurf darüber vorlegen könne, wie Schüler und Lehrer miteinander lernen sollen. Es gehe darum, wie man lernen wolle. Lernen solle nicht zum Problem gemacht werden mit der Hypothese, dass das Erfinden neuer Lernwelten im Prozess des Redens und der Erarbeitung von Handlungsübereinkünften entstehe.
Konkret heißt das: Kinder sollen schon sehr früh (d. h. bereits im Kindergarten!) selbstständig, eigenständig, selbstmotiviert entdecken, forschen, sich in der Freiarbeit entscheiden und sich im Team und Gruppenprozess positiv einbringen. Kinder sind aber keine zu klein geratenen Erwachsenen.
Literaturempfehlungen:
• Will man sich mit »kritischen« Denkansätzen auseinandersetzen, sei auf das Buch von Ampft H, Gerspach M und Mattner D (2002) Kinder mit gestörter Aufmerksamkeit, Kohlhammer, verwiesen.
• Bezüglich der Entwicklungen im Bildungssystem verwirrt Reinhard Voß (Hrsg.) (2002) »Die Schule neu erfinden«, Luchterhand, und noch mehr »Die Entwicklung der frühen Jahre. Die Initiative McKinsey bildet. Zur frühkindlichen Bildung« als Dokumentation von Reinhard Kahl (2006) Beltz. (Wie sehr diese Ansätze greifen, zeigt die pädagogische Entwicklung in den letzten Jahren – nachhaltig).
Es verblüfft wirklich, was in der Resolution des Grundschulverbandes von 15.11.2014 zu lesen ist: »Leitideen wie Demokratisierung und Inklusion und wachsende berufliche Anforderung verlangen die volle Entfaltung der persönlichen Potenziale« (in: »Humane Schule« 40. Jahrgang, 12/2014, S. 17).
Und das klappe nur über Förderung der Selbstverantwortung und Rückmeldungen. Schon im Lernprozess in einem von kooperativen Lernformen geprägten Unterricht, in dem die Kinder »als Akteure des Lernens« miteingeschlossen werden, die über ihre Leistung und Bewertung nachdenken sollen, d. h. im Gespräch zwischen Kind und Lehrer soll das Kind seinen Lernfortschritt einschätzen (schon ab der ersten Klasse…). In einer demokratischen und inklusiven Schule sollen die Kinder in der Gemeinschaft lernen, für einander Verantwortung zu übernehmen – als Grundlage für demokratische Teilhabe.
Das klingt alles theoretisch sehr schön – aber an den soliden entwicklungspsychologischen Erkenntnissen über Kinder völlig vorbei, speziell, wenn sie irgendwie »anders« sind. Bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS (mit und ohne Komorbiditäten) gelingt eine realistische Selbst- und Eigenleistungseinschätzung nicht – sie sind auf häufiges Feedback und auf die Verstärkung ihrer Austragungsbereitschaft angewiesen!
Literaturempfehlungen:
• Eine ausgezeichnete Abhandlung ist das Buch von Rothenberger A und Neumärker K-J (2005) Wissenschaftsgeschichte der ADHS – Kramer – Pollnow im Spiegel der Zeit, Steinkopf, mit aktueller und sehr klarer Erörterung des ADHS im wissenschaftlichen und politischen Kontext.
• Für Fachleute und interessierte Laien ist das sorgfältig recherchierte Buch von Grawe K (2004) Neuropsychotherapie, Hogrefe-Verlag, speziell zu neuronalen Grundlagen psychischer Störungen allgemein (nicht speziell für ADHS) zu empfehlen, u. a. mit dem Mahnen, sehr sorgfältig mit den Begriffen Trauma, traumatisierend, Stress etc. umzugehen.
2 An wen richtet sich dieser Ratgeber?
Dieser Ratgeber richtet sich an jeden, der sich mit dem Störungsbild ADHS in seiner Komplexität, mit und ohne zusätzliche Probleme, auseinandersetzen will einschließlich der Hilfestellungen, die sich tatsächlich in der praktischen täglichen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS bewährt haben.
Typische Fragen sollen beantwortet werden, so zum Beispiel:
• Ist es wirklich so, dass Schwangerschaftsbelastungen und andere Traumata oder beispielsweise Vergiftungen Auslöser für ADHS sind?
• Wie werden Kinder mit ADHS von anderen verhaltensauffälligen Kindern unterschieden?
• Welche Symptome sind typisch für eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität?
• Kann ein Kind im ersten Lebensjahr sehr ruhig und später dann unruhig sein?
• Laufen diese Kinder immer sehr früh?
• Wie sinnvoll ist die Frühdiagnostik bei Vier- bis Fünfjährigen?
• Mein Sohn (8 Jahre) hat ADHS und wird durch Gleichaltrige (Schulkameraden) ausgegrenzt, weil er »dumm« ist. Ich habe meinem Sohn erklärt, warum er anders ist. Meiner Meinung nach kann er jetzt besser mit der Ausgrenzung umgehen; er leidet aber gelegentlich doch darunter. War es falsch, meinen Sohn so früh aufzuklären?
• Wie wecke ich Verständnis bei meinen »normalen« Kindern, dass ich mich dem Kind mit ADHS gegenüber anders verhalte als ihnen?
• Welche Rolle spielen die Medien?
• Gehört Aggression unbedingt zum Erscheinungsbild der ADHS?
• Der schwierigste Lebensabschnitt eines Kindes mit ADHS ist die Pubertät (ca. 12. bis 17. Lebensjahr). Was sollten Eltern wissen und beachten?
• Was mache ich bei mehreren Problemkindern mit und ohne Hyperaktivität?
• Wie verkraften diese Kinder eine Trennung der Eltern?
• Wie gehe ich mit meinem Sohn um, der so gut wie jede Sache zuerst ablehnt? Das passiert auch bei regelmäßigen Veranstaltungen (Musikschule); es macht ihm aber dann bei der Aufführung Spaß.
• Wie kann zum Lernen motiviert werden?
• Muss ich mich damit abfinden, wenn gesagt wird, dass ein Kind mit ADHS das eine oder das andere nicht kann? Dieses Etikett birgt doch auch Risiken?
• Wenn das Kind und ein oder beide Elternteile erkrankt sind, wie geht es dann weiter? Wie sieht es bei einer betroffenen Mutter oder einem alleinerziehenden Elternteil aus?
• Welchen Stellenwert haben Nährstofftherapien (Omega-3- und -6-Fettsäuren, Nachtkerzenöl, Vitamin E und Magnesium)?
• Was ist von der begleitenden homöopathischen Behandlung zu halten?
• Ist es sinnvoll oder gefährlich, Kindern »prophylaktisch« Zink zu verabreichen?
• Welchen Stellenwert und welche Nebenwirkungen haben Psychostimulanzien?
• Wer übernimmt die Kosten für Therapien, wenn das Kind schon als Hilfe zur Erziehung nach § 27 untergebracht ist und die Finanznot in den Jugendämtern groß ist?
• Ist eine Therapie im Erwachsenenalter noch möglich? Wenn ja, wo und wie?
• Wie sieht die Therapie bei Erwachsenen mit ADHS und Depressionen und/oder Angstzuständen aus?
3 Der lange Weg zur Diagnose
Bericht einer Lehrerin der 5. Klasse der Realschule
Max ist sehr leicht ablenkbar und in hohem Maß unkonzentriert. Er stört nicht bewusst, sondern ist ständig mit Dingen beschäftigt, die nicht zum Unterricht gehören, und hält auch andere Schüler vom Unterricht ab, wenn er nicht alleine sitzt.
Es fällt auf, dass er bei Sachverhalten und Aufgabenstellungen, die ihn interessieren, sehr wohl konzentriert arbeiten kann, auch über einen längeren Zeitraum.