Die Patchworkfamilie. Sybille Geuking

Die Patchworkfamilie - Sybille Geuking


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zum Erdgeschoss hinunter. Die Tür des smaragdgrünen Autos öffnete sich und ein Paar schwarzer, spitzer Schuhe, Größe 45, kam zum Vorschein. Thomas trug stets blank geputzte Businessschuhe. Nur beim Segeln rang er sich zu rutschfesten Turnschuhen durch. Nachdem er ausgestiegen war, strich er mehrmals mit der flachen Hand über sein dunkelblaues Jackett, das vom Sitzen im Auto einige Knitter bekommen hatte. Es war etwas länger geschnitten und saß leger, um so seine korpulente Figur zu kaschieren. Aus dem gleichen Grund trug er dunkle Jeans. Das helle Türkis des Oberhemdes ließ sein Gesicht frisch wirken, obwohl er von der langen Fahrt erschöpft sein musste. Sein Haar war sorgfältig frisiert und mit etwas Gel gestylt. Er kam auf sie zu und seine aufrechte Haltung strahlte Selbstbewusstsein aus. „Hallo, große Schwester, wie geht’s?“, begrüßte er sie. Dabei lachte er sie mit seinen graugrünen Augen schelmisch an. „Am liebsten gut, kleiner Bruder“, neckte sie zurück. So zogen sie sich immer gegenseitig auf, denn obwohl er drei Jahre jünger war als sie, hatte er sie bereits mit 10 Jahren um eine Kopflänge überragt. Er umarmte sie und strich ihr über den Rücken. Sie roch sein Aftershave und fand den Duft angenehm, aber er hatte wieder einmal etwas zu viel des Guten getan. Obwohl er sich immer sorgfältig rasierte, kratzte sein Bart leicht. Aber er war ja auch schon ein paar Stunden unterwegs gewesen. „Hallo, Onkel Thomas, hast du mir was mitgebracht?“, meldete sich der kleine Till fröhlich zu Wort. Zur Begeisterung des Jungen zauberte Thomas einen in rotglänzendes Papier gewickelten Lutscher aus dem Ärmel. „Na, du alter Rabauke, hast du dir heut schon die Haare gekämmt?“, fragte Thomas und verwuschelte Till die Haare. Dieser kicherte und fragte plötzlich, indem er auf das Auto zeigte: „Wer ist das denn?“ „Das ist meine Überraschung.“ Thomas ging zu dem Mann, der gerade auf der Beifahrerseite ausgestiegen war, fasste ihn an der Schulter und schob ihn leicht in die Richtung von Tina und Till. „Das ist mein Freund Peter. Wir sind zusammen.“ „Wie, zusammen?“, stotterte Tina und spürte, wie eine Hitzewelle in ihr hochschoss und ihr Gesicht zum Erröten brachte. „Seid ihr…?“, fragte sie und verschluckte das Ende der Frage mit Blick auf den herumhüpfenden Till.

      *

      Der Fremde umarmte Tina mit den Worten: „Schön, Sie endlich kennenzulernen. Thomas hat schon so viel von Ihnen erzählt. Sie können mich ruhig duzen, ich heiße Peter.“ Während er sprach, schnappte seine Stimme in eine höhere Tonlage über. Tinas Gesichtsröte verstärkte sich. Was war das denn für ein komischer Typ? Total peinlich. Na, das konnte ja heiter werden. „Kommt erst mal rein. Ihr habt bestimmt Hunger. Beim Abendessen könnt ihr mir alles erzählen.“ Die vier schnappten sich Koffer und Taschen und stapften die Treppen hinauf. Tina betrachtete den Fremden, während er vor ihr lief. Er sah aus wie ein großer Schuljunge, sehr schlank, kurze blonde Haare, an den Seiten und am Hinterkopf anrasiert und die etwas längeren Haare am Oberkopf zu einem scharfen Scheitel gekämmt. Ganz das Gegenteil von Thomas, dachte sie. Sieht eigentlich gar nicht schwul aus, Thomas genauso wenig. Tina kämpfte gegen ihren Schock. Sie hatte vorher nie bemerkt, dass Thomas nicht auf Frauen stand. Manchmal hatte sie sich wohl gewundert, dass er keine Freundin hatte, aber er hatte ihr immer erklärt, dass er eben noch kein passendes Mädchen gefunden habe. Vielleicht war auch ihm damals der Grund dafür noch nicht klar gewesen. Jetzt wusste er aber offenbar, was er wollte. Und warum waren die beiden zu ihr gekommen? Doch nicht bloß, um ihr zu eröffnen, dass sie ein Paar sind. Da musste noch mehr sein. Sie zersprang fast vor Neugier.

      *

      Kurz entschlossen öffnete Tina die Tür zu ihrem Schlafzimmer. „Ihr könnt hier schlafen, ist zwar nur ein französisches Bett, nicht so breit wie ein Doppelbett, aber für zwei Nächte wird’s schon gehen. Ich muss es nur frisch beziehen, ich wusste ja nicht, dass ihr zu zweit kommt.“ Ihr vorwurfsvoller Blick traf Thomas. „Das ist aber nett. Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Peter, diesmal wieder in normaler Tonlage. „Ja, gerne, aber nur, wenn du mich nicht weiter siezt. Jetzt lasst uns zuerst essen, sonst wird es zu spät.“ Sie ging voran zur Küche und die zwei großen Männer und der kleine folgten ihr im Gänsemarsch. „Ja, ich hab auch wirklich Hunger“, meinte Peter. „Ich auch“, stimmte Till zu und naschte, kaum in der Küche angekommen, schon mal von den Radieschen. „Nun warte doch, bis alle am Tisch sitzen!“, tadelte Tina ihn und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. „Wir sitzen ja schon“, grinste Thomas und stupste Till in die Seite. Der Kleine saß zwischen Thomas und Peter und fasste plötzlich nach deren Händen. „Piep, piep, piep, guten Appetit!“, rief er. „Guten Appetit!“, erwiderte die Tischrunde fröhlich und alle begannen zu essen. Eine Weile kauten sie schweigend. Dann räusperte sich Thomas und sagte in fast feierlichem Ton: „Tina, wir sind heute zu dir gekommen, um dir einen Vorschlag zu machen. Wir wollen und müssen unser Leben völlig neu ordnen. Peter möchte seine Profi-Fußballkarriere beenden und wir wollen zusammenleben. Aber in Bayern ist man schwulen Männern gegenüber recht voreingenommen, doch wir wollen uns nicht länger verstecken. Das mussten wir bisher, um Peters Fußballkarriere nicht zu gefährden.“ Tina starrte ihren Bruder an.

      *

      „Und was wollt ihr jetzt machen und was hab ich damit zu tun?“, fragte sie. „Wir haben im Internet recherchiert und hier ein leerstehendes Gebäude gefunden, das für unsere Pläne wie geschaffen ist.“ „Wir wollen ein Hundehotel eröffnen“, erläuterte Peter, „sowas läuft in Bayern sehr gut. Das würde hier wohl auch funktionieren“, fuhr er fort. Tina blieb der Mund offenstehen. „Ihr seid verrückt“, stammelte sie, „was das kostet!“ „Darüber mach dir mal keine Sorgen, wir haben einiges gespart. Und jetzt wollen wir endlich unseren Lebenstraum verwirklichen, uns selbstständig zu machen und etwas für Tiere zu tun. Daher die Idee mit dem Hundehotel. Du sollst in die Firma mit einsteigen. Nun, Tina, was sagst du dazu?“ Thomas blickte sie erwartungsvoll an. „Hm, ich weiß nicht, da müsste ich ja meinen jetzigen Job aufgeben. Und was, wenn das dann schiefgeht?“, stammelte Tina. „Na, dann verkaufst du eben wieder Versicherungen. Außerdem geht das nicht schief. Wir haben gründlich recherchiert. Konkurrenz gibt es hier kaum und der Bedarf ist da.“ „Und wie wollt ihr jetzt weiter vorgehen?“, wollte Tina wissen. „Wir schauen uns morgen die Immobilie an. Um 9.00 Uhr treffen wir uns dort mit dem Makler. Früher war dort ein Fitnesscenter mit einer großen Sauna. Kennst du das Objekt?“ Tina nickte. „Liegt im Industriegebiet, für ein Hundehotel ideal, da stört keinen das Gebell.“

      *

      „Na, siehst du, sei nicht so ängstlich, das kriegen wir schon hin“, meinte Thomas und legte den Arm um sie. „Die Idee stammt von mir“, ließ sich Peter plötzlich vernehmen, „wir hatten in unserer Familie immer Hunde, ich bin mit ihnen aufgewachsen und kenne mich deshalb ganz gut damit aus. Und in unserer Freizeit haben wir fleißig Bücher über Hunde und deren Haltung und Ernährung gelesen.“ „Okay, wir gucken uns morgen erst mal das Gebäude an und dann werden wir weitersehen“, erklärte Tina.

Kapitel 2

      Die Besichtigung war ein voller Erfolg. Das Haus war ideal, im Obergeschoss konnte man zwei Wohnungen einrichten und im Untergeschoss war ausreichend Platz für die Hotelzimmer der Vierbeiner und eine Lounge mit Verkaufstheke sowie Toiletten. Der Keller war für Lagerräume vorgesehen. Rings um das Haus gab es großzügige Rasenflächen, die von einem hohen Zaun umgeben waren. Sogar ein kleiner Swimmingpool war vorhanden, das ehemalige Tauchbecken der Sauna. So erfüllte die Immobilie schon zwei wesentliche Bedingungen für ein Hundehotel: Sie lag in einem Gewerbegebiet und war sicher eingezäunt, sodass weder die Gefahr einer Lärmbelästigung noch eines Ausbruchs bestand. Die drei beschlossen, die Immobilie zu kaufen. Sie einigten sich mit dem Eigentümer über den Preis, sodass sie schließlich bei einem Notartermin den Kauf des Gebäudes vertraglich fixieren konnten.

      *

      Das nächste halbe Jahr verging damit, das Gebäude umzubauen und die für das Tierhotel erforderlichen Genehmigungen, Abnahmen und Formalitäten zu erledigen. Außerdem musste natürlich kräftig die Werbetrommel gerührt werden, sowohl in den regionalen Tageszeitungen als auch im Internet. Für die Eröffnungsfeier verteilten sie Flyer und persönliche Einladungen an die Honoratioren der Stadt und an die Presse. So war die Eröffnung bestens besucht, mit dem Ergebnis, dass das Tierhotel für die Osterferien bereits voll ausgebucht war. Thomas, Peter und Tina konnten erst einmal aufatmen, denn ihr Unternehmen schien sich gut zu entwickeln.

      *


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