Die Patchworkfamilie. Sybille Geuking
dann, wir müssen dann wieder. Auf Wiedersehen.“ Peter begleitete die Polizisten zur Tür. Als er wieder in die Küche kam, saß Tina auf dem Küchenstuhl und weinte. Till hatte sein Butterbrot auf den Teller gelegt und war zu ihr auf den Schoß gekrabbelt. „Mami, warum weinst du denn?“, fragte er immer wieder, aber Tina schluchzte nur und strich ihm über den Kopf. „Ich fahr da jetzt mal hin, zum Krankenhaus“, sagte Peter. „Ich komme mit“, rief Tina. „Und was machst du mit Till? Den kannst du nicht mitnehmen, das ist nichts für ihn. Kinder dürfen, glaube ich, auch gar nicht auf die Intensivstation. Bleibt ihr mal hier, ich richte Grüße von euch aus und wenn ich zurück bin, erzähl ich euch, wie’s ihm geht.“ Peter klang erstaunlich ruhig und vernünftig, doch dann murmelte er: „Diese verdammten rechten Schweine. Wie komme ich denn jetzt da hin? Ich weiß gar nicht, wo Thomas das Auto abgestellt hat. Er muss ja auch noch den Schlüssel haben. Ach, Tina könntest du mich fahren? Dann müssen wir Till doch mitnehmen, aber nicht ins Krankenhaus. Ob Thomas was braucht im Krankenhaus? Ich hab jetzt keinen Nerv dafür, was einzupacken, werd ich wohl dort erfahren.“ „Selbstverständlich fahr ich dich, ich kann sowieso nicht hier sitzen und nichts tun. Till, zieh deine Schuhe und die Jacke an, wir fahren los. Kannst dein Butterbrot mitnehmen.“ Tina half ihm beim Anziehen, schnappte sich ihre Autoschlüssel und rannte mit ihm und Peter zu ihrem Auto. Es regnete immer noch. Die grauen Wolken sorgten für einen frühen Einbruch der Dämmerung. Die Lichter der Autos spiegelten sich in den Pfützen und blendeten. Nach einer ihnen endlos vorkommenden Fahrt, die sie schweigend und jeder in seinen eigenen Gedanken versunken verbrachten, erreichten sie den Krankenhausparkplatz. Tina parkte den Wagen, sie eilten in das Gebäude und fragten sich durch zur Intensivstation. Peter drückte auf die Klingel zur Eingangstür. Eine Schwester öffnete. „Wir wollen zu Herrn Thomas Ruland.“ „Das Kind darf aber nicht mit hinein“, sagte die Schwester. „Dann warte hier auf mich, ich schaue nach Thomas, nehm dann den Kleinen und dann kannst du auch rein“, schlug Peter vor. „Ja, ist gut, wir laufen hier ein bisschen hin und her.“ Als Peter nach einer endlosen Viertelstunde wieder herauskam, hatte er Tränen in den Augen. „Wie ist es?“, fragte Tina. „Sieh selbst“, antwortete Peter. Dann nahm er Till auf den Arm und drückte ihn an sich.
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Tina betrat die Intensivstation. Ein Geruch von Desinfektionsmitteln schlug ihr entgegen. Das Licht der Deckenlampen spiegelte sich in dem grünlich gemaserten Fußbodenbelag. Die Schwester führte sie in eine Art Umkleideraum. „Bitte ziehen Sie einen Kittel an und desinfizieren Sie Ihre Hände. Danach bitte hier entlang!“ Als Tina das Zimmer von Thomas betrat, erlitt sie einen Schock und brach in Tränen aus. Ihr Bruder lag auf einem Krankenbett, den Kopf mit weißen Verbänden umwickelt, einen Beatmungsschlauch im Mund und war an zahlreiche Geräte angeschlossen, die seine Lebensfunktionen überwachten. Sie spürte, dass er zwischen Leben und Tod schwebte und fühlte sich daneben so klein und hilflos. Es war still im Zimmer, nur das Beatmungsgerät rauschte gleichmäßig. Tina streichelte Thomas‘ Wange, aber seine Augen blieben geschlossen. Alles erschien ihr so unwirklich. Die Schwester berührte sie an der Schulter. „Möchten Sie einen Arzt sprechen? Herr Doktor Frenzel ist da. Bitte hier, im Nebenraum.“ Tina nickte. „Guten Tag. Ich bin Doktor Frenzel“, begrüßte sie der Arzt. „Wir haben Ihren Bruder operiert und in ein künstliches Koma versetzt, damit er sich erholen und beruhigen kann. Er hat einen Schädelbasisbruch und Einblutung im Gehirn, außerdem sind drei Rippen gebrochen.“ „Und wann wacht er wieder auf?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wann und ob er aufwacht und in welchem geistigen Zustand er dann sein wird, kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Wir müssen abwarten. Alles, was wir tun konnten, haben wir getan. Wir müssen jetzt einfach Geduld haben.“ Tina nickte. In ihrem Hals saß ein Kloß aus zurückgehaltenen Tränen, denn sie wollte sich vor dem Arzt nicht gehenlassen. Im Vorraum erwartete sie die Schwester und bat sie, ihren Kittel in den Behälter mit der Schmutzwäsche zu werfen. Draußen im Gang warteten Peter und Till. Als Tina zu schluchzen begann, nahm Peter sie wortlos in den Arm. Till stand mit großen Augen daneben und verstand nicht, warum die beiden Erwachsenen so traurig waren. Sie waren sonst immer so stark, groß und klug und trösteten ihn, wenn er weinte. Und jetzt weinten sie selbst. Angst stieg in ihm auf, aber er wusste nicht, wovor. Das machte ihn hilflos und wütend. Er krallte sich an Tinas Bein fest und stampfte mit den Beinen, während er „Mamaa, Maamaa!“ schrie. Tina und Peter hörten schlagartig auf, zu weinen und versuchten, das Kind zu beruhigen. „Komm, Till, wir gehen jetzt zum Auto und fahren nach Hause. Onkel Thomas ist krank, er muss jetzt schlafen, damit er schnell wieder gesund wird. Deshalb müssen wir jetzt ganz leise sein.“ Peters tiefe Stimme beruhigte den Kleinen und er ließ sich von ihm an die Hand nehmen. Schweigend liefen die drei zum Auto.
Seufzend schlug Paul auf den piependen Wecker und nach einem kurzen Blick zur Zimmerdecke, von der ihm in roten Ziffern eine projizierte „06.00“ entgegen leuchtete, rollte er sich zusammen, um noch eine kleine Mütze Schlaf zu nehmen. Doch es nützte ihm nichts. Die Türklinke knallte nach unten, zwei Pfoten legten sich auf sein Bett und Senta hechelte ihm ins Gesicht. „Ach, du alte Nervensäge“, knurrte er und kraulte die Hündin hinter den Ohren. „Ich steh auf, ist ja gut.“ Er hasste diesen Tag schon jetzt, denn er würde lang werden und Ärger bringen. Warum hatten sie diese Flüchtlinge auch gerade hier abladen müssen? Er schlurfte in die Küche und füllte Trockenfutter in Sentas Napf. Die Hündin steckte sofort ihre Schnauze hinein und zerknackte die Futterkroketten zwischen den Zähnen. Gähnend schlich Paul in Schlafanzughosen und T-Shirt zur Haustür und öffnete sie. Ein kühler Wind wehte ihm Nieselregen ins Gesicht. Er rieb sich mit den Händen über die Arme. Dann nahm er die Zeitung aus dem Briefkasten. „Scheiße!“, murmelte er nach einem Blick auf die Titelseite und fuhr sich mit der rechten Hand durch seine dunkle Igelfrisur. „Rechte Gewalt gegen Flüchtlinge in Fritzdorf“ sprang ihm die Schlagzeile in dicken Lettern entgegen, darunter ein Foto des Aufmarschs am gestrigen Abend. „Straßenschlacht zwischen Gewalttätern und Polizei fordert einen Schwerverletzten“ stand unter dem Bild. Diese verdammten Schreiberlinge, woher wussten die überhaupt, wann die Flüchtlinge kamen? Die mussten eine gute Quelle haben, genauso wie die rechten Randalierer. Er zumindest hatte seine Leute angewiesen, über den Termin Stillschweigen zu bewahren, dies hatte er auch den Mitarbeitern der Ausländerbehörde empfohlen, um Proteste zu vermeiden. Aber irgendeiner musste doch gequatscht haben, entweder aus Versehen oder um sich wichtig zu machen.
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Hoffentlich schaffte es der Schwerverletzte. Sonst – er mochte nicht weiterdenken. Ihm graute schon vor dem Besuch im Krankenhaus. Er warf die Zeitung auf den Küchentisch, tappte ins Bad und schaute in den Spiegel, während er Rasierschaum im Gesicht verteilte. Alter, nun bist du schon 45 und hast dir im Laufe der Zeit ein dickes Fell zugelegt, aber dieser Fall, der wird dir noch zu schaffen machen, ist eben was anderes, wenn man das Opfer so gut kennt. Unzufrieden begutachtete er das Ergebnis seiner Rasur. Aus einem kleinen Schnitt quoll Blut. Das kommt davon, wenn man sich nicht konzentriert. Zischend zog er die Luft durch die Zähne, als er die Wunde mit Rasierwasser betupfte. Später, beim Frühstück, betrachtete Paul noch einmal das Foto in der Zeitung. Plötzlich stand er auf, holte die Lupe aus einer Schublade des Küchenschranks und schaute sich abermals das Bild ganz genau an. Dann hielt er die Lupe über den Namen des Fotografen, der klein gedruckt rechts unter dem Bild stand. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer der Redaktion. „Hier ist Hauptkommissar Petereins. Ist Herr Kleinert im Haus? Ich muss ihn dringend sprechen.“ „Ja, in der nächsten Stunde ist er noch da.“ „Okay, er soll auf mich warten, ich bin in einer halben Stunde da.“ Er legte auf und rief Senta. Dann zog er die Wohnungstür hinter sich zu, lief mit Senta durch den Hausflur, zog sein Fahrrad aus dem Ständer vor dem Haus, schwang sich auf den Sattel und radelte los. Senta trabte ohne Leine nebenher. Auf der Wache angekommen, zog er sich seine Uniform an und warf dann ein kurzes „Guten Morgen, ich bin beim ‚Fritzdorfer Tageblatt‘, kümmert ihr euch um Senta?“ ins Zimmer seiner Kollegen, schnappte sich seinen Autoschlüssel und lief zum Dienstwagen. Paul fuhr los und nach zehn Minuten parkte er den Wagen vor dem dunkelgrauen Gebäude der Redaktion. Stimmengewirr umfing ihn und neugierige Augenpaare richteten sich auf ihn, als er das Großraumbüro betrat. Herr Kleinert?“ „Hier!“, kam es aus der hinteren rechten Ecke. Ein kleiner, dicker Mann mit runder Nickelbrille kam auf ihn zu. „Der Polizeichef persönlich, dann muss es was Wichtiges sein.“ Die Augen