Die Patchworkfamilie. Sybille Geuking
und Empfangsdame auf und hatte gleich einen guten Draht zu den Kunden und ihren Vierbeinern. Thomas und Peter konnten sich erst nach und nach das Vertrauen der Kunden erarbeiten. Anfangs hatten einige Berührungsängste und sprachen nur das Notwendigste mit den beiden Schwulen. Doch als den Herrchen und Frauchen beim Abholen ihre Hunde gesund und munter entgegensprangen und beim nächsten Mal genauso freudig in die Hundepension hineinrannten, legten sie ihre Vorbehalte ab. Bald bestand zu allen zwei- und vierbeinigen Besuchern ein vertrauensvolles Verhältnis.
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Die beiden Männer waren mit dem Erfolg ihres Projektes zufrieden und genossen es, ihre Abende gelegentlich in Berliner Szenekneipen zu verbringen. Tina hatte keine Lust, allein auszugehen, obwohl Thomas ihr angeboten hatte, auf Till aufzupassen. Aber für sie waren Männer und die Liebe im Moment kein Thema. Sie saß lieber bei einem Glas Rotwein und
las ein spannendes Buch, von dessen Helden sie sich in eine andere Welt entführen ließ.
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Morgens frühstückten immer alle zusammen und die Erwachsenen besprachen die Arbeitsabläufe des Tages und unterhielten sich über interessante Zeitungsartikel. Thomas blätterte in der Zeitung, während er von seinem Brötchen abbiss. „Die wollen die alten Russenkasernen umbauen“, verkündete er mit vollem Mund. „Da sollen dann Flüchtlinge rein. Wird auch Zeit, dass mit den alten Buden mal was passiert. Die sind nicht gerade eine Zierde neben dem modernen Einkaufszentrum.“ „Flüchtlinge? Hier bei uns, wo die Rechten so stark sind? Wenn das mal keinen Ärger gibt.“, warf Tina ein. „Wann soll das denn soweit sein?“, fragte Peter. „Im Sommer. Ist vielleicht ganz gut, wenn da gerade Ferien sind, dann sind viele von den Rechten im Urlaub, da gibt’s vielleicht keinen Ärger. Erst mal abwarten, wird schon nicht so problematisch werden“, beruhigte Thomas. „Uns betrifft das doch auch gar nicht, wir sind ja hier im Gewerbegebiet weit genug weg von den Kasernengrundstücken. Die liegen ja am entgegengesetzten Ende der Stadt“, ergänzte Peter. „Ja, da habt ihr sicher Recht“, stimmte Tina zu, „und wir zwei machen uns jetzt auf den Weg zum Kindergarten“, wandte sie sich an Till. „Vergiss deine Brottasche nicht!“
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Till schnappte sich die Tasche und rannte fröhlich „Tschüssi“ rufend in den Flur.
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Die Zeitung berichtete nun regelmäßig über den Baufortschritt an den ehemaligen Kasernen und über ausländerfeindliche Schmierereien, die Unbekannte trotz verstärkter Polizeistreifen auf den frischen Putz gesprüht hatten. Es gelang gerade noch rechtzeitig, diese vor dem Eintreffen der ersten Flüchtlinge Anfang Juni zu entfernen.
Der Juni war verregnet. Auch an jenem Freitag hatte es den ganzen Tag gegossen. Graue Wolken zogen über die Stadt und schütteten unaufhörlich Wasser aus. Die Hunde liefen mit schlammigen Pfoten und nassem Fell ins Haus und Tina, Thomas und Peter hatten alle Hände voll zu tun, ihre Gäste wieder sauber und trocken zu bekommen. Till hüpfte in Gummistiefeln durch die Pfützen und sammelte etwas in sein Sandeimerchen ein. „Was machst du denn da?“, wollte Tina wissen. „Ich sammle die Regenwürmer aus den Pfützen, die ertrinken sonst“, antwortete Till. „Na, du bist mir ein Schlauberger. Jetzt komm aber rein!“, lachte sie. „Schütte die Regenwürmer hier auf das Blumenbeet, die graben sich dann wieder ein“, empfahl sie Till, der daraufhin sein Eimerchen entleerte. „So, alle Hunde sind im Haus und trocken“, verkündete Thomas. „Ich fahr jetzt mal schnell einkaufen, bin vor dem Abendessen zurück.“ „Vergiss mein Nutella nicht!“, rief Till ihm nach. Thomas startete das Auto und die Scheibenwischer kämpften gegen den Regen an. Die roten Rücklichter verschwammen im
dichten Wassernebel, der unter den Reifen hoch stob. Als er in die Bahnhofstraße einbiegen wollte, war diese durch ein Polizeiauto abgesperrt und ein Polizist wies ihn mit einem Handzeichen an, weiterzufahren. Thomas sah eine Menschenmenge und hörte Geschrei. „Ach, die Rechten“, dachte er, „scheinen gegen Flüchtlinge zu demonstrieren.“ Er beschloss, auf den Parkplatz hinter der Post zu fahren. Von dort könnte er dann an der Post vorbeilaufen und in den gegenüberliegenden Supermarkt gelangen. Aber er müsste sich durch die auf der Bahnhofstraße demonstrierenden Menschen hindurchkämpfen. Er parkte den Wagen und lief mit hoch- gezogener Kapuze durch den strömenden Regen. Vor der Post blieb er stehen. Die Demonstranten reckten ihre Fäuste in die Luft und stießen sie nach vorn, in Richtung des Flüchtlingsheimes, während sie skandierten: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ Die Menschen, die aus dem dort haltenden Bus ausstiegen, duckten sich unter den auf sie niederprasselnden Hasstiraden hinter den zu ihrem Schutz aufmarschierten Polizisten und wurden von zwei Polizisten mit den Worten: „Los, los, schnell, schnell!“, ins Haus gescheucht. Thomas beschlich ein mulmiges Gefühl und er versuchte, sich durch die aufgebrachten Menschen auf die andere Straßenseite hindurch zu schieben. Wasser aus den zahlreichen Pfützen schwappte in seine Schuhe. Plötzlich flogen Pflastersteine durch die Luft und prallten mit dumpfem Knall von den Schilden der Polizisten ab. Menschen schrien und die Polizisten wehrten sich mit ihren Schlagstöcken.
„Bloß weg hier“, dachte Thomas. Da spürte er einen harten Schlag an der rechten Schläfe, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Abwehrend riss er die Arme hoch. Die Einkaufstasche mit den leeren Flaschen fiel klirrend zu Boden. Thomas taumelte. Um ihn herumschrien und rannten Menschen. Eine Gestalt mit bis über den Mund hochgezogenem Rollkragen rempelte ihn an. „Dich kenne ich doch“, dachte er beim Blick in wasserblaue, fast brauenlose Augen. Der Gedanke verlor sich jedoch im Dunkel, als er mit dem Kopf auf die Bordsteinkante aufschlug. Er fühlte noch, wie Füße über ihn hinweg trampelten. Dann spürte er nichts mehr. Aus seinen Ohren sickerte Blut.
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Tina saß auf einem Küchenstuhl und nippte an ihrem Kaffee. Wo Thomas bloß blieb? Er war jetzt schon über eine Stunde weg. „Ich hab Hunger“, quengelte Till. Ich auch“, seufzte Tina, „Onkel Thomas muss jeden Augenblick kommen, dann gibt’s Abendessen.“ Plötzlich bellten die Hunde. Tina öffnete das Küchenfenster. Da hörte sie auch die Sirenen von Polizei- oder Krankenwagen. Sie schienen in Richtung Innenstadt zu fahren. Die Hunde bellten und jaulten. Ein riesiger Tumult. „Mama, was ist da los? Ist das die Feuerwehr? Wo brennt es denn? Mamaaa!“ „Jetzt hör auf, zu nerven, ich weiß es doch auch nicht!“ Till begann, zu weinen. „Ist ja gut, ist ja gut.“ Tina nahm Till auf den Arm und lief mit ihm auf und ab. „Ich weiß nicht, was los ist.“ Sie setzte Till ab, nahm das Telefon aus der Halterung und wählte Thomas‘ Nummer. Aber es ging kein Ruf raus. Sie versuchte es wieder und wieder, aber sie konnte ihn nicht erreichen. Sein Handy war tot. „Da muss was passiert sein, ich kann Thomas nicht erreichen“, schleuderte Tina dem soeben durch die Tür hereinkommenden Peter entgegen. Er hatte die Hunde gefüttert, die sich inzwischen beruhigt hatten. „Er geht und geht nicht an sein Handy“, sorgte sich Tina, „am liebsten würde ich losfahren und nach ihm sehen.“ „Da würdet ihr euch garantiert verfehlen, das hat keinen Zweck. Er wird schon kommen. Vielleicht ist sein Handy runtergefallen und kaputt gegangen“, versuchte Peter sie zu beruhigen. Aber am Ton seiner Stimme merkte sie, dass er daran selbst nicht glaubte und sich auch Sorgen machte. Tina schmierte Till ein Butterbrot. Sie selbst aß nichts, Peter hatte auch keinen Appetit. Abwechselnd schauten sie auf die Uhr und aus dem Fenster. Ein Polizeiwagen hielt vor dem Haus. Zwei Polizisten stiegen aus und liefen zur Haustür. Die Klingel schellte und die Hunde bellten. Tina und Peter zuckten zusammen. Tina drückte auf den Türöffner und riss die Wohnungstür auf. „Ist was mit Thomas? Ist ihm was passiert? Was ist mit ihm?“, platzte sie heraus, kaum dass die Polizisten vor der Tür standen. „Sie sind die Ehefrau von Herrn Thomas Ruland?“, fragte der eine Polizist Tina. „Nein, ich bin seine Schwester, er ist nicht verheiratet“, stammelte Tina.
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„Jetzt kommen Sie erstmal rein“, ließ sich Peter vernehmen, „ich bin sein Lebensgefährte.“ „Ja, also, wir müssen Ihnen mitteilen, dass Herr Ruland schwer verletzt im Krankenhaus liegt. Er ist gestürzt. Hat wohl einen Pflasterstein abbekommen. Die näheren Umstände müssen noch untersucht werden. Er wollte offensichtlich durch den Protestzug hindurch zum Supermarkt, denn er hatte eine Tasche mit leeren Pfandflaschen bei sich. Er ist da wohl unabsichtlich in diesen Tumult hineingeraten. Es tut mir